Arm und Reich
landete. Atahualpa hatte mithin nicht die leiseste Ahnung von der Eroberung der mächtigsten und bevölkerungsreichsten indianischen Reiche Mittelamerikas durch die Spanier.
Ebenso überraschend wie das Verhalten Atahualpas, das zu seiner Gefangennahme führte, erscheint uns heute sein weiteres Gebaren. Das berühmte Lösegeld bot er in dem naiven Glauben an, die Spanier würden ihn nach dessen Zahlung freilassen und sich wieder aus dem Staub machen. Er konnte nicht ahnen, daß Pizarro und seine Männer nur der Auftakt zu einer Invasion waren, der es nicht um vereinzelte Beutezüge, sondern um dauerhafte Inbesitznahme ging.
Atahualpa stand mit seinen fatalen Irrtümern nicht allein. Selbst nach seiner Gefangennahme gelang es Francisco Pizarros Bruder Hernando Pizarro, den höchsten General Atahualpas, Chalcuchima, der ein großes Heer befehligte, mit Arglist zu überreden, sich in die Gewalt der Spanier zu begeben. Chalcuchimas Fehleinschätzung markierte einen Wendepunkt, da der Widerstand der Inkas danach schwächer wurde, und insofern kam ihr fast soviel Bedeutung zu wie der Gefangennahme Atahualpas selbst. Der Azteken-Herrscher Montezuma beging einen noch größeren Fehler, als er Cortés und seine winzige Armee für eine heimkehrende Gottheit hielt und Cortés Zutritt zu seiner Hauptstadt Tenochtitlan gewährte. Die Folge war, daß Cortés erst Montezuma gefangennahm, dann Tenochtitlan eroberte und als nächstes das gesamte Azteken-Reich unterwarf.
Bei oberflächlicher Betrachtung beruhten die Fehleinschätzungen Atahualpas, Chalcuchimas, Montezumas und zahlloser anderer indianischer Herrscher, die sich von Europäern überlisten ließen, darauf, daß keine lebenden Bewohner der Neuen Welt die Alte Welt besucht hatten und also auch keine genauen Informationen über die Spanier haben konnten. Trotzdem fällt es heute schwer, nicht nachträglich etwas mehr Mißtrauen von Atahualpa zu erwarten, allein aus der Kenntnis menschlichen Verhaltens heraus. Als Pizarro nach Cajamarca kam, besaß er ebenfalls kein genaues Wissen über die Inkas, abgesehen von dem, was er durch Verhöre von Inka-Untertanen, denen er 1527 und 1531 begegnet war, erfahren hatte. Als Spanier war Pizarro jedoch, obwohl selbst Analphabet, Erbe einer Schriftkultur. Aus Büchern waren den Spaniern etliche zeitgenössische Zivilisationen außerhalb Europas bekannt, und sie besaßen auch Kenntnisse über mehrere tausend Jahre europäischer Geschichte. Der Hinterhalt, in den Pizarro Atahualpa lockte, war denn auch eine klare Nachahmung des erfolgreichen Vorgehens von Cortés bei der Eroberung des Azteken-Reichs.
Kurzum, dank der Schrift waren die Spanier Erben eines gewaltigen Wissensfundus über menschliches Verhalten und menschliche Geschichte. Im Gegensatz dazu besaß Atahualpa nicht nur keine Vorstellung von den Spaniern noch irgendwelche persönlichen Erfahrungenmit anderen Eindringlingen aus Übersee, sondern er hatte nicht einmal von ähnlichen Bedrohungen anderer Reiche an irgendeinem Ort und zu irgendeinem Zeitpunkt der Geschichte gehört (oder gelesen). Durch diese Kluft wurde Pizarro ermutigt, die Falle zu stellen, während Atahualpa aus Mangel an Erfahrung blindlings hineinlief.
Die Gefangennahme Atahualpas durch Pizarro veranschaulicht somit die Konstellation unmittelbarer Faktoren, die dazu führten, daß die Neue Welt von Europäern kolonisiert wurde und nicht umgekehrt Europa von Eindringlingen aus Amerika. Zu den Gründen für Pizarros Erfolg zählten die Militärtechnik mit Kanonen, Waffen aus Stahl und Pferden, ansteckende Krankheiten eurasischer Herkunft, Schiffbau und Navigation, die zentralistische politische Ordnung europäischer Staaten und nicht zuletzt die Schrift. Es waren diese unmittelbaren Faktoren, die Europäer in die Lage versetzten, auszuziehen und andere Kontinente zu erobern. Lange bevor irgend jemand an Kanonen und Stahl dachte, schufen jedoch ähnliche Faktoren die Voraussetzungen für Expansionsbewegungen verschiedener nichteuropäischer Völker. Davon wird in späteren Kapiteln die Rede sein.
Nach wie vor unbeantwortet ist die grundlegende Frage, warum all diese unmittelbaren Vorteile in erster Linie den Europäern und nicht den Völkern der Neuen Welt zufielen. Warum waren es nicht die Inkas, die Kanonen und Stahlschwerter erfanden, auf furchterregenden Tieren in die Schlacht ritten, Krankheitserreger in sich trugen, gegen die
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