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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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lan­dete. Atahualpa hatte mithin nicht die leiseste Ahnung von der Eroberung der mächtigsten und bevölkerungs­reichsten indianischen Reiche Mittelamerikas durch die Spanier.
    Ebenso überraschend wie das Verhalten Atahualpas, das zu seiner Gefangennahme führte, erscheint uns heu­te sein weiteres Gebaren. Das berühmte Lösegeld bot er in dem naiven Glauben an, die Spanier würden ihn nach dessen Zahlung freilassen und sich wieder aus dem Staub machen. Er konnte nicht ahnen, daß Pizarro und seine Männer nur der Auftakt zu einer Invasion waren, der es nicht um vereinzelte Beutezüge, sondern um dauer­hafte Inbesitznahme ging.
    Atahualpa stand mit seinen fatalen Irrtümern nicht allein. Selbst nach seiner Gefangennahme gelang es Fran­cisco Pizarros Bruder Hernando Pizarro, den höchsten General Atahualpas, Chalcuchima, der ein großes Heer befehligte, mit Arglist zu überreden, sich in die Gewalt der Spanier zu begeben. Chalcuchimas Fehleinschätzung markierte einen Wendepunkt, da der Widerstand der Inkas danach schwächer wurde, und insofern kam ihr fast soviel Bedeutung zu wie der Gefangennahme Ata­hualpas selbst. Der Azteken-Herrscher Montezuma be­ging einen noch größeren Fehler, als er Cortés und sei­ne winzige Armee für eine heimkehrende Gottheit hielt und Cortés Zutritt zu seiner Hauptstadt Tenochtitlan ge­währte. Die Folge war, daß Cortés erst Montezuma ge­fangennahm, dann Tenochtitlan eroberte und als näch­stes das gesamte Azteken-Reich unterwarf.
    Bei oberflächlicher Betrachtung beruhten die Fehl­einschätzungen Atahualpas, Chalcuchimas, Montezu­mas und zahlloser anderer indianischer Herrscher, die sich von Europäern überlisten ließen, darauf, daß keine lebenden Bewohner der Neuen Welt die Alte Welt be­sucht hatten und also auch keine genauen Informatio­nen über die Spanier haben konnten. Trotzdem fällt es heute schwer, nicht nachträglich etwas mehr Mißtrau­en von Atahualpa zu erwarten, allein aus der Kenntnis menschlichen Verhaltens heraus. Als Pizarro nach Ca­jamarca kam, besaß er ebenfalls kein genaues Wissen über die Inkas, abgesehen von dem, was er durch Ver­höre von Inka-Untertanen, denen er 1527 und 1531 be­gegnet war, erfahren hatte. Als Spanier war Pizarro je­doch, obwohl selbst Analphabet, Erbe einer Schriftkultur. Aus Büchern waren den Spaniern etliche zeitgenössische Zivilisationen außerhalb Europas bekannt, und sie be­saßen auch Kenntnisse über mehrere tausend Jahre eu­ropäischer Geschichte. Der Hinterhalt, in den Pizarro Atahualpa lockte, war denn auch eine klare Nachah­mung des erfolgreichen Vorgehens von Cortés bei der Eroberung des Azteken-Reichs.
    Kurzum, dank der Schrift waren die Spanier Erben eines gewaltigen Wissensfundus über menschliches Ver­halten und menschliche Geschichte. Im Gegensatz dazu besaß Atahualpa nicht nur keine Vorstellung von den Spaniern noch irgendwelche persönlichen Erfahrun­genmit anderen Eindringlingen aus Übersee, sondern er hatte nicht einmal von ähnlichen Bedrohungen an­derer Reiche an irgendeinem Ort und zu irgendeinem Zeitpunkt der Geschichte gehört (oder gelesen). Durch diese Kluft wurde Pizarro ermutigt, die Falle zu stellen, während Atahualpa aus Mangel an Erfahrung blind­lings hineinlief.
    Die Gefangennahme Atahualpas durch Pizarro veran­schaulicht somit die Konstellation unmittelbarer Fakto­ren, die dazu führten, daß die Neue Welt von Europä­ern kolonisiert wurde und nicht umgekehrt Europa von Eindringlingen aus Amerika. Zu den Gründen für Pi­zarros Erfolg zählten die Militärtechnik mit Kanonen, Waffen aus Stahl und Pferden, ansteckende Krankhei­ten eurasischer Herkunft, Schiffbau und Navigation, die zentralistische politische Ordnung europäischer Staa­ten und nicht zuletzt die Schrift. Es waren diese unmit­telbaren Faktoren, die Europäer in die Lage versetzten, auszuziehen und andere Kontinente zu erobern. Lan­ge bevor irgend jemand an Kanonen und Stahl dach­te, schufen jedoch ähnliche Faktoren die Voraussetzun­gen für Expansionsbewegungen verschiedener nichteu­ropäischer Völker. Davon wird in späteren Kapiteln die Rede sein.
    Nach wie vor unbeantwortet ist die grundlegende Frage, warum all diese unmittelbaren Vorteile in erster Linie den Europäern und nicht den Völkern der Neu­en Welt zufielen. Warum waren es nicht die Inkas, die Kanonen und Stahlschwerter erfanden, auf furchterre­genden Tieren in die Schlacht ritten, Krankheitserreger in sich trugen, gegen die

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