Arm und Reich
Reife durch Farben oder Gerüche zu signalisieren. Ein Tier auf Nahrungssuche pflückt und verschluckt die Frucht, läuft oder fliegt davon und speit die Samenkörner in größerer Entfernung vom Ort der Mutterpflanze aus oder scheidet sie mit dem Kot aus. Auf diese Weise können Samen Entfernungen von mehreren tausend Kilometern überwinden.
Es mag überraschen, daß Pflanzensamen den Verdauungsprozeß in den Gedärmen unbeschadet überstehen, so daß sie nach ihrer Ausscheidung noch keimen. Wer es genau wissen will und nicht zu zimperlich ist, kann aber selbst die Probe machen. In vielen Fällen sind die Samen von Wildpflanzen sogar auf die Passage durch den tierischen Verdauungstrakt regelrecht angewiesen, um keimen zu können. Das gilt zum Beispiel für eine afrikanische Melonenart, die so gut an ihren Platz auf dem Speiseplan des Erdferkels, einer hyänenartigen Kreatur, angepaßt ist, daß sie am häufigsten dort zu finden ist, wo Erdferkel ihren Kot hinterlassen.
Nehmen wir als Beispiel dafür, wie sich manche Pflanzen ihre »Mitfahrgelegenheit« beschaffen, einmal die Walderdbeere. Wenn Erdbeersamen noch zu jung zum Keimen sind, ist das Fruchtfleisch grün, sauer und hart. Sind die Samen endlich reif, hat sich auch die Beere verwandelt: Ihr Fruchtfleisch ist rot, süß und weich. Die Farbveränderung dient als Signal, das Vögel wie etwa Misteldrosseln anlockt, die dann die Beeren pflücken und mit ihnen davonfliegen, um die Samenkörner später wieder auszuspeien oder mit dem Kot auszuscheiden.
Natürlich verfolgten die Erdbeeren nicht planvoll das Ziel, just in dem Moment, in dem ihre Samen reif und zum Ausstreuen bereit waren, Vögel anzulocken. Und natürlich ging es den Misteldrosseln auch nicht darum, Erdbeeren zu domestizieren. Die Evolution der Erdbeerpflanzen erfolgte vielmehr durch natürliche Selektion. Je grüner und saurer die jungen Erdbeeren waren, desto weniger Samenkörner wurden von Vögeln vernichtet, die vorzeitig Beeren pflückten; je süßer und roter die Erdbeeren am Ende waren, desto mehr wurden von Vögeln gepflückt, die damit auch die reifen Samenkörner verbreiteten.
Zahllose andere Pflanzen besitzen ebenfalls Früchte, die an Verzehr und Verbreitung durch bestimmte Tierarten angepaßt sind. Wie Erdbeeren an Vögel, so sind Eicheln an Eichhörnchen, Mangofrüchte an Fledermäuse und einige Arten von Riedgräsern an Ameisen angepaßt. Damit ist ein Teil unserer Definition der Pflanzendomestikation erfüllt, nämlich die genetische Veränderung einer Wildpflanze in der Weise, daß ihr Nutzen für Konsumenten erhöht wird. Niemand würde diesen evolutionären Prozeß jedoch ernsthaft als Domestikation bezeichnen, da Vögel, Fledermäuse und andere tierische Konsumenten den zweiten Teil der Definition nicht erfüllen: Sie bauen Pflanzen nicht bewußt an. Ähnlich bestanden die unbewußten Anfangsphasen der Domestikation von Wildpflanzen durch Menschen darin, daß sich Pflanzen im Zuge ihrer Evolution so veränderten, daß Menschen dazu verleitet wurden, ihre Früchte zu essen und zu verbreiten, ohne die betreff enden Pflanzen zunächst jedoch bewußt anzubauen. Womöglich waren menschliche Latrinen, wie jene der Erdferkel, Versuchsstätten der ersten unbewußten Pflanzenzüchter.
Latrinen sind nur einer der vielen Orte, an denen die Samen von Wildpflanzen unabsichtlich ausgesät wurden. Wenn wir eßbare Früchte von Wildpflanzen pflücken und heimtragen, fallen uns unterwegs oder zu Hause ein paar davon herunter. Manche verfaulen, während die in ihnen verborgenen Samen völlig unversehrt bleiben, und landen ungegessen auf dem Müll. Von den verschiedenen Früchten, die wir verspeisen, haben etwa Erdbeeren so winzige Samenkörner, daß sie unweigerlich verschluckt und beim Stuhlgang ausgeschieden werden; andere sind jedoch so groß, daß wir es vorziehen, sie auszuspucken. Unsere Spucknäpfe und Müllkippen zählten deshalb neben den stillen Örtchen zu den ersten landwirtschaftlichen Versuchslabors.
Unabhängig davon, in welchem dieser »Labors« die Samen im einzelnen landeten, stammten sie doch in der Regel von ganz bestimmten einzelnen Vertretern eßbarer Pflanzenarten – nämlich solchen, denen wir aus dem einen oder anderen Grund den Vorzug gaben. Wer einmal Beeren gesammelt hat, weiß, daß man sich bestimmte Beeren beziehungsweise Sträucher oder Büsche ausguckt. Als die ersten Ackerbauern begannen, Samen bewußt
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