Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
Vom Netzwerk:
Erbsen ist das jedoch nicht der Fall. In der Natur sind solche Mutanten dazu verdammt, in ihren Hülsen zu verkümmern, während nur die Erbsen aus aufspringenden Hülsen in der Lage sind, ihr Erbgut weiterzugeben. Umgekehrt sind jedoch die einzigen Hülsen, die darauf warten, vom Menschen gepflückt zu werden, eben jene, die nicht aufspringen. Sobald der Mensch begann, wilde Erbsen als Nahrung zu ernten, begann deshalb sofort eine Auslese zugun­sten jenes mutierten Gens. Auch bei Linsen, Flachs und Mohn fiel die Wahl auf Mutanten, deren Hülsen nicht aufspringen wollten.
    Statt in einer Hülse mit Aufspringmechanismus wach­sen die Körner von Wildweizen und -gerste in Ähren an der Halmspitze, die, wenn die Zeit gekommen ist, brü­chig werden, zerfallen und die Körner zum Keimen auf den Boden werfen. Ein einziges mutiertes Gen bewirkt, daß die Samenkörner nicht abgeworfen werden. In der Natur wäre diese Mutation für die Pflanze verhängnis­voll, da die Samen an den Halmen vertrocknen wür­den, statt im Erdreich Wurzeln zu schlagen. Es waren aber ausgerechnet jene mutierten Samenkörner, die von Menschen bequem geerntet werden konnten. Bei späte­rer Aussaat boten sich an den Halmen der nächsten Ge­neration wieder besonders die mutierten Körner zum Ernten und Aussäen an, während die normalen Körner abgeworfen wurden und deshalb nicht in Frage kamen. Dies bedeutet, daß die frühen Bauern die Richtung der natürlichen Selektion um 180 Grad verkehrten: Das zu­vor erfolgreiche Gen wurde verhängnisvoll, und das zu­vor verhängnisvolle mutierte Gen wurde plötzlich er­folgreich. Jene unbewußte Selektion von Weizen- und Gerstenhalmen, die ihre Körner nicht abwarfen, war vor über 10 000 Jahren offenbar die erste bedeutende »Ver­besserung« einer Pflanze durch den Menschen. Dieser Schritt markierte zugleich den Beginn der Landwirt­schaft im Bereich des Fruchtbaren Halbmonds.
    Der zweite Veränderungstyp war für frühzeitliche Wanderer noch weniger sichtbar. Bei einjährigen Pflan­zen, die in Gebieten mit besonders unberechenbarem Klima wuchsen, konnte es katastrophal sein, wenn alle Samen binnen eines kurzen Zeitraums gleichzeitig keim­ten. Wo dies geschah, konnten in einer einzigen Dür­re- oder Frostperiode alle Sämlinge eingehen, so daß für die Fortpflanzung der Art keine Samen mehr üb­rig waren. Um ihre Chancen auf Fortpflanzung zu er­höhen, entwickelten deshalb viele einjährige Pflanzen als Schutzmechanismus den sogenannten Keimverzug, der bewirkt, daß die Samen zunächst in einem Ruhe­zustand »schlummern« und die Keimung über mehre­re Jahre verteilt erfolgt. Auf diese Weise bleiben immer einige Samen für später intakt, selbst wenn die meisten durch anhaltendes Unwetter eingehen.
    Eine bei Wildpflanzen häufig vorkommende Anpas­sung, die der Erhöhung der Keimungschancen dient, ist eine dicke Schale um die Samen. Zu den zahlreichen Wildpflanzen, die dafür Beispiele liefern, zählen Wei­zen, Gerste, Erbsen, Flachs und Sonnenblumen. Wäh­rend solche spätsprießenden Samen in der Natur am Ende doch zum Zuge kommen, brachte das Aufkom­men der Landwirtschaft einen drastischen Wandel mit sich. Die frühen Bauern dürften durch Ausprobieren her­ausgefunden haben, daß sie ihre Ernteerträge steigern konnten, wenn sie den Boden vor der Aussaat bestell­ten und bewässerten. Als dies geschah, wuchsen Samen, die prompt keimten, zu Pflanzen heran, deren Samen geerntet und im folgenden Jahr zur Aussaat verwendet wurden. Viele der wilden Samen keimten jedoch nicht sofort und kamen deshalb nicht dazu, geerntet und im Folgejahr ausgesät zu werden.
    Den sporadisch auftretenden mutierten Wildpflanzen mangelte es an dicken Samenschalen oder anderen Mög­lichkeiten, die Keimung zu verzögern. Sie keimten so­fort, und von den Samen, die sie hervorbrachten, wur­den wiederum die mutierten geerntet. Die frühen Bauern dürften den Unterschied nicht in der Weise bemerkt ha­ben, wie sie große Beeren erkannten und selektiv ernte­ten. Der Kreislauf von Säen-Wachsen-Ernten-Säen führ­te jedoch sofort und unbewußt zu einer Begünstigung der Mutanten. Ebenso wie die Veränderungen in den na­türlichen Samenverbreitungsmitteln ist der Verlust des Keimverzugs kennzeichnend für Weizen, Gerste, Erb­sen und viele andere Kulturpflanzen im Unterschied zu ihren wildwachsenden Vorfahren.
    Der letzte Haupttyp einer in der Entstehungsphase der Landwirtschaft für Bauern unsichtbaren

Weitere Kostenlose Bücher