Arm und Reich
Kräuter, die in der Umgebung der Fundstätte anzutreffen waren.
Die Jäger und Sammler von Tell Abu Hureyra verschwendeten ihre Zeit also nicht und brachten sich auch nicht in Gefahr, indem sie wahllos alle möglichen Wildpflanzen heimtrugen. Sie waren mit der örtlichen Pflanzenwelt offenbar ebensogut vertraut wie moderne Neuguineer und setzten ihr Wissen ein, um nur die nützlichsten Samenpflanzen zu ernten. Eben diese bildeten aber vermutlich die Grundlage für die unbewußten ersten Schritte in Richtung Domestikation.
Schauplatz meines zweiten Beispiels dafür, wie vorgeschichtliche Völker ihr biologisches Wissen zum eigenen Vorteil nutzten, ist das Jordantal im 9. Jahrtausend v. Chr., als dort mit der Kultivierung von Anbaupflanzen begonnen wurde. Die ersten domestizierten Getreidearten des Flußtals waren Gerste und Emmerweizen, die noch heute zu den ertragreichsten Anbaupflanzen der Welt zählen. Doch wie in Tell Abu Hureyra muß es auch hier Hunderte anderer samentragender Wildpflanzenarten in der Umgebung gegeben haben, von denen 100 oder mehr eßbar gewesen und vor Beginn der Pflanzendomestikation regelmäßig von Sammlern geerntet worden sein dürften. Was war das Besondere an Gerste und Emmerweizen, das die Wahl ausgerechnet auf sie fallen ließ? Waren jene ersten Bauern des Jordantals botanische Stümper, die nicht wußten, was sie taten? Oder waren Gerste und Emmer tatsächlich die besten heimischen Wildgetreidearten der Region?
Zwei israelische Wissenschaftler, Ofer Bar-Yosef und Mordechai Kislev, bemühten sich um eine Antwort auf diese Frage, indem sie Wildgräser untersuchten, die im Jordantal noch heute vorkommen. Dabei ließen sie Arten mit kleinen oder ungenießbaren Samen außer acht und wählten nur die 23 wohlschmeckendsten, großsamigsten Wildgräser aus. Es überrascht nicht, daß sich darunter auch Gerste und Emmerweizen befanden.
Nun waren die 21 anderen Gräser auf der Liste allerdings nicht alle gleich nützlich. Von den 23 Arten erwiesen sich Gerste und Emmerweizen in vielerlei Hinsicht als die geeignetsten Kandidaten. Emmerweizen hat die größten Samenkörner, Gerste die zweitgrößten. In der Natur ist Gerste im Jordantal eines der vier Gräser mit der stärksten Verbreitung, Emmerweizen liegt im Mittelfeld. Zu den weiteren Vorteilen der Gerste zählen genetische und morphologische Eigenschaften, durch die nützliche Veränderungen in den natürlichen Samenverbreitungsmitteln und im Keimverzug (siehe letztes Kapitel) binnen relativ kurzer Zeit geschehen konnten. Emmerweizen hat dafür andere Vorzüge zu bieten: Er läßt sich besser ernten als Gerste und unterscheidet sich von den meisten anderen Getreidearten dadurch, daß die Körner fest von Spelzen umschlossen sind. Die Nachteile der 21 anderen Arten bestehen in kleineren Samen, geringerer natürlicher Verbreitung und zum Teil auch darin, daß es sich um perennierende statt um einjährige Pflanzen handelt, was Veränderungen im Zuge ihrer Domestikation stark verlangsamt hätte.
Die ersten Ackerbauern des Jordantals entschieden sich mit anderen Worten für die zwei besten der 23 geeignetsten Wildgräser, die in ihrer Umgebung wuchsen. Die evolutionären Veränderungen der Samenverbreitungsmittel und des Keimverzugs (nach Beginn der Kultivierung) waren natürlich unvorhergesehene Folgen des Handelns jener ersten Bauern. Die ursprüngliche Selektion von Gerste und Emmerweizen erfolgte aber bewußt und beruhte auf den leicht erkennbaren Merkmalen Samengröße, Genießbarkeit und natürliche Verbreitung. Das Beispiel des Jordantals verdeutlicht ebenso wie das von Tell Abu Hureyra, daß die ersten Bauern ihre ausführlichen Kenntnisse über heimische Arten zum eigenen Vorteil einzusetzen verstanden. Bei dem umfangreichen Wissen über die Pflanzenwelt ihrer Umgebung, wie sie heute höchstens noch eine kleine Zahl studierter Botaniker besitzt, konnte es ihnen kaum passieren, daß sie eine nützliche Wildpflanzenart übersahen und zu kultivieren versäumten, die ähnlich gut zur Domestikation geeignet war wie Gerste und Emmerweizen.
Wir wollen nun untersuchen, wie sich Bauern in zwei Regionen der Welt (Neuguinea, Osten der USA) mit unabhängig entstandener, aber anscheinend weniger effektiver Nahrungsproduktion (verglichen mit Vorderasien) verhielten, als ertragreichere Kulturpflanzen aus anderen Regionen eintrafen. Falls diese Pflanzen aus kulturellen oder
Weitere Kostenlose Bücher