Arm und Reich
Säugetiere. Wie wir sehen werden, kamen in den mediterranen Klimazonen Kaliforniens, Chiles, Südwestaustraliens und Südafrikas nur wenige oder gar keine Säugetierarten vor, die zur Domestikation geeignet waren. Demgegenüber wurden in Vorderasien vier Arten – Ziege, Schaf, Schwein und Rind – schon sehr früh domestiziert, vielleicht früher als irgendein anderes Tier an irgendeinem Ort der Welt (mit Ausnahme des Hundes). Diese vier Arten zählen noch heute zu den fünf wichtigsten Haustierarten (Kapitel 8). Ihre hauptsächlichen Verbreitungsgebiete lagen jedoch in verschiedenen Bereichen des Fruchtbaren Halbmonds, was dazu führte, daß sie auch an verschiedenen Orten domestiziert wurden: das Schaf wahrscheinlich im inneren Teil, die Ziege entweder in höhergelegenen Gebieten des östlichen Teils (iranisches Sagros-Gebirge) oder im Südwesten (Levante), das Schwein im nördlichen inneren Teil und das Rind im westlichen Teil einschließlich Anatoliens. Doch obwohl die Verbreitungsgebiete dieser vier ursprünglichen Vorfahren unserer Haustiere nicht identisch waren, lagen sie doch dicht genug beieinander, um nach erfolgter Domestikation einen Austausch zu ermöglichen, so daß am Ende alle vier Arten in der ganzen Region anzutreffen waren.
Der Aufstieg der Landwirtschaft in Vorderasien wurde durch die Domestikation von acht Anbaugewächsen ausgelöst, die wir als »Gründerpflanzen« bezeichnen (da sie die Landwirtschaft in der Region und vielleicht auf der ganzen Welt begründeten). Zu diesen acht Pflanzen zählten drei Getreidearten (Emmerweizen, Einkornweizen, Gerste), vier Hülsenfrüchte (Linse, Erbse, Kichererbse, Linsenwicke) und eine Faserpflanze (Flachs). Nur zwei der acht Gründerpflanzen, Flachs und Gerste, kommen in größerem Umfang auch außerhalb des Fruchtbaren Halbmonds und Anatoliens vor. Zwei weitere hatten ein sehr kleines natürliches Verbreitungsgebiet: Kichererbsen wuchsen nur im Südosten der Türkei und Emmerweizen nur im eigentlichen Gebiet des Fruchtbaren Halbmonds. Die entstehende Landwirtschaft konnte sich also auf die Domestikation heimischer Wildpflanzen stützen und war nicht auf den »Import« von Kulturpflanzen angewiesen. Außerdem konnten zwei der acht Gründerpflanzen nirgendwo anders domestiziert werden, da sie außer in Vorderasien nirgendwo auf der Welt heimisch waren.
Die Existenz geeigneter Wildtiere und -pflanzen versetzte die frühen Bewohner Vorderasiens in die Lage, innerhalb kurzer Zeit ein vielversprechendes und ausgewogenes Bio-Paket zu schnüren, das eine intensive Landwirtschaft ermöglichte. Es bestand aus drei Getreidearten als Hauptlieferanten von Kohlehydraten, vier Arten von Hülsenfrüchten mit 20–25 Prozent Eiweißgehalt und vier Haustierarten als Hauptlieferanten von Eiweiß, ergänzt durch den hohen Eiweißgehalt des Weizens, und Flachs als Faser- und Öllieferant (Leinsamen, wie die Flachssaat genannt wird, bestehen zu 40 Prozent aus Öl). Einige Tausend Jahre später wurden Tiere auch zur Gewinnung von Milch und Wolle, zum Pflügen von Feldern und als Transportmittel genutzt. Damit deckten die Anbaupflanzen und Tiere der ersten bäuerlichen Kulturen Vorderasiens schließlich die gesamten wirtschaftlichen Grundbedürfnisse des Menschen nach Kohlehydraten, Eiweiß, Fett, Kleidung, Zugkraft und Fortbewegungsmitteln.
Ein letzter Vorteil der frühen Landwirtschaft im Bereich des Fruchtbaren Halbmonds bestand darin, daß die Jagd- und Sammelwirtschaft dort möglicherweise weniger konkurrenzfähig war als in manchen anderen Regionen, so auch des westlichen Mittelmeerraums. Vorderasien hat nur wenige große Flüsse, und auch die Küste ist verhältnismäßig kurz, so daß die Möglichkeit, den Speiseplan mit Fischen und Schalentieren anzureichern, eher gering war. Eine wichtige Säugetierart, die wegen ihres Fleischs gejagt wurde, die Gazelle, kam ursprünglich in riesigen Herden vor, wurde aber parallel zum Anwachsen der menschlichen Bevölkerung stark dezimiert, bis nur noch ein kleiner Restbestand übrig war. So dauerte es nicht lange, bis die Landwirtschaft der Jagd- und Sammelwirtschaft überlegen war. Feste Dorfsiedlungen existierten zudem schon vor dem Aufkommen von Ackerbau und Viehzucht, so daß der Übergang zur Landwirtschaft für die Jäger und Sammler der Region naheliegender war als anderswo. In Vorderasien vollzog sich der Übergang innerhalb einer relativ
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