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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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beim verzweifelten Anrennen ge­gen den Zaun, der sie von der Freiheit trennt. Das gilt beispielsweise für Gazellen, die in manchen Gebieten Vorderasiens jahrtausendelang das am meisten gejagte Wild darstellten. Bei keinem anderen Säugetier hatten die ersten seßhaften Bewohner jener Region mehr Ge­legenheit, Domestikationsversuche zu unternehmen, als bei Gazellen. Es wurde jedoch keine einzige Gazellen­art je domestiziert. Man stelle sich nur vor, man sollte ein Tier halten, das ständig davonläuft, sich in blinder Panik gegen Mauern wirft, fast 10 Meter hoch springen und 80 Kilometer pro Stunde schnell sprinten kann!
    Soziale Rangordnung . Die wildlebenden Vorfahren fast sämtlicher Arten großer domestizierter Säugetiere ha­ben drei soziale Merkmale gemein: Sie leben in Herden, weisen eine stark entwickelte Dominanzordnung auf und beanspruchen kein Revier für sich allein, d. h., die Wei­degebiete der Herden können sich überschneiden. So be­steht beispielsweise bei Wildpferden eine Herde aus ei­nem Hengst und bis zu einem halben Dutzend Stuten mit ihren Fohlen. Stute A ist ranghöher als die Stuten B, C, D, E usw.; Stute B ist rangniedriger als A, aber rang­höher als C, D, E usw.; C ist rangniedriger als B und A, aber ranghöher als D und E – und so weiter. Ist die Her­de auf Wanderschaft, wird eine feste Marschordnung eingehalten: Den Schluß bildet der Hengst, die Spitze das ranghöchste Weibchen, gefolgt von ihrem jüngsten und dann den übrigen Fohlen. Dahinter kommen die anderen Stuten in der Reihenfolge ihres Rangs, jeweils mit ihren Fohlen im Gefolge. Auf diese Weise kann eine größere Zahl erwachsener Tiere in einer Herde zusam­menleben, ohne daß ständig Kämpfe ausgetragen wer­den – jedes Tier kennt genau seinen Platz in der Rang­ordnung.
    Für Zwecke der Domestikation ist eine solche Domi­nanzordnung ideal, da sich der Mensch an ihre Spit­ze setzen kann. Packpferde in einem Troß lassen sich genauso selbstverständlich von einem Menschen leiten, wie sie dem ranghöchsten Weibchen folgen würden. In Schaf-, Ziegen- und Rinderherden begegnet man eben­falls einer solchen Hierarchie; das gleiche gilt für Rudel von Wölfen, den wildlebenden Vorfahren der Hunde. Beim Aufwachsen in der Herde erfolgt eine Prägung der Jungtiere auf diejenigen Herdenangehörigen, die regel­mäßig in ihrer Nähe sind. In der Natur handelt es sich um Artgenossen, unter den Bedingungen der Gefangen­schaft können es jedoch auch Menschen sein.
    Tiere, die in sozialen Gemeinschaften leben, sind prin­zipiell geeignete Kandidaten für die Viehhaltung. Da sie gegenüber Artgenossen ein tolerantes Verhalten zeigen und auch in der Natur in großer Zahl auf engem Raum zusammenleben, können sie problemlos zusammen­gepfercht werden. Und da sie instinktiv einem ranghö­heren Anführer folgen und auch auf Menschen geprägt werden können, lassen sie sich mühelos von einem Schaf­hirten oder Schäferhund treiben.
    Im Gegensatz dazu kommen die meisten Tierarten mit Territorialverhalten, deren Angehörige als Einzelgänger leben, für die Herdenhaltung nicht in Frage. Weder sind sie tolerant gegenüber Artgenossen, noch lassen sie sich auf Menschen prägen oder ordnen sich instinktiv unter. Oder haben Sie schon einmal eine Herde Katzen gese­hen, die friedlich hinter einem Menschen herzog? Je­der, der Katzen kennt, weiß, daß sie sich dem Menschen niemals in der gleichen Weise unterordnen wie Hunde. Katzen und Frettchen sind die einzigen Säugetierarten mit Territorialverhalten, die jemals domestiziert wurden. Dies geschah aber nur, weil unsere Absicht nicht darin bestand, sie in Herden als Schlachtvieh zu halten, son­dern weil es uns um ihren Dienst als flinke Jäger bezie­hungsweise putzige Gefährten ging.
    Während also die meisten territorialen Einzelgänger nicht domestiziert wurden, ist es umgekehrt keineswegs so, daß das Gros der Herdentiere domestiziert werden kann. Bei den meisten ist dies aus mindestens einem von mehreren weiteren Gründen nicht der Fall.
    Erstens leben die Herden bei vielen Arten nicht in sich überlappenden Weidegebieten, sondern verteidigen die Reviere, die sie bewohnen, gegen andere Herden. Zwei derartige Herden lassen sich genausowenig zusammen­pferchen wie zwei männliche Tiere einer Art, deren An­gehörige als Einzelgänger leben.
    Zweitens zeigen viele Arten, die einen Teil des Jahres in Herden verbringen, in der Paarungszeit ein ausgepräg­tes Territorialverhalten

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