Arm und Reich
Mexiko nicht erst um 3500 v. Chr. domestiziert wurde, wie ich für diese Berechnungen angenommen habe,
sondern schon viel früher, wie die meisten Archäologen bis vor kurzem glaubten (viele vertreten noch heute diese Meinung).
Große Unterschiede bestanden auch im Umfang der Ausbreitung der in einem Gebiet domestizierten Anbaupflanzen und Haustiere, die ebenfalls auf stärkere beziehungsweise schwächere Barrieren hindeuten. Während beispielsweise die meisten Gründerpflanzen und -vieharten Vorderasiens den Weg westwärts nach Europa und ostwärts ins Industal fanden, gelangte von den Haustieren der Anden (Lama/Alpaka, Meerschweinchen) in präkolumbianischer Zeit kein einziges bis nach Mesoamerika. Diese verblüffende Tatsache schreit geradezu nach einer Erklärung. Immerhin entwickelten sich in Mesoamerika bäuerliche Kulturen mit hoher Siedlungsdichte und komplexen gesellschaftlichen Strukturen, so daß die in den Anden domestizierten Tiere (wären sie denn verfügbar gewesen) als wertvolle Nahrungs- und Wolllieferanten beziehungsweise Zugtiere sicher äußerst willkommen gewesen wären. Abgesehen von Hunden gab es in Mesoamerika nämlich keine heimischen Säugetiere, die diese Bedürfnisse hätten befriedigen können. Einige Anbaupflanzen aus Südamerika, wie Maniok, Süßkartoffeln und Erdnüsse, gelangten aber dennoch nach Mesoamerika. Welche selektive Barriere mag es gewesen sein, die diese Pflanzen passieren ließ, Lamas und Meerschweinchen indes fernhielt?
Auf noch subtilere Weise finden die geographisch unterschiedlichen Ausbreitungsgeschwindigkeiten Ausdruck im Phänomen der »präventiven Domestikation«. Das Erbgut der wildwachsenden Pflanzenarten, von denen unsere Kulturpflanzen abstammen, variiert genetisch von Region zu Region, was daher rührt, daß sich in den Populationen der Ahnenpflanzen in verschiedenen Gebieten unterschiedliche Mutationen durchsetzten. Ebenso können die Veränderungen, deren es zur Transformation von Wildpflanzen zu Kulturpflanzen bedarf, im Prinzip durch unterschiedliche neue Mutationen beziehungsweise Auslesevorgänge hervorgerufen werden, die jeweils zum gleichen Ergebnis führen. Vor diesem Hintergrund kann eine in vorgeschichtlicher Zeit weitverbreitete Kulturpflanze daraufhin untersucht werden, ob alle Varietäten die gleiche wilde beziehungsweise transformative Mutation aufweisen. Zweck der Analyse ist die Klärung der Frage, ob die betreffende Pflanze in nur einer Region oder unabhängig in mehreren verschiedenen Regionen domestiziert wurde.
Bei Anwendung dieser genetischen Analyse auf die wichtigsten klassischen Kulturpflanzen der Neuen Welt stößt man bei den meisten auf zwei oder mehr unterschiedliche Wildformen beziehungsweise zwei oder mehr transformative Mutationen. Daraus kann gefolgert werden, daß die betreffende Kulturpflanze in mindestens zwei Regionen eigenständig domestiziert wurde und daß einige Varietäten die spezielle Mutation eines bestimmten Gebiets, andere dagegen die eines anderen Gebiets in ihrem Erbgut bewahren. Aufgrund solcher Untersuchungen gelangten Botaniker zu dem Schluß, daß Limabohnen ( Phaseolus lunatus ), Gartenbohnen ( Phaseolus vulgaris ) und Paprika der Sorten Capsicum annuum/chinense jeweils in mindestens zwei Regionen unabhängig voneinander domestiziert wurden, einmal in Mesoamerika und einmal in Südamerika; und daß der Kürbis Cucurbita pepo und die Samenpflanze Gänsefuß jeweils mindestens zweimal unabhängig voneinander domestiziert wurden, einmal in Mesoamerika und einmal im Osten der USA. Demgegenüber findet man bei den meisten der klassischen Anbaupflanzen Vorderasiens nur jeweils eine der wilden Varianten beziehungsweise transformativen Mutationen, woraus geschlossen werden kann, daß alle heutigen Varietäten der jeweiligen Pflanze auf einer einzigen Domestikation beruhen.
Welche Konsequenzen hat es aber, wenn ein und dieselbe Anbaupflanze in verschiedenen Teilen ihres natürlichen Verbreitungsgebiets mehrmals und nicht nur ein einziges Mal in nur einem Gebiet domestiziert wurde? Wie wir bereits sahen, geht es bei der Pflanzendomestikation darum, Wildpflanzen so zu verändern, daß ihr Nutzen für den Menschen wächst, beispielsweise durch größere Samen, einen weniger bitteren Geschmack oder andere Eigenschaften. Steht bereits eine produktive Pflanze zur Verfügung, werden angehende Ackerbauern sicherlich diese verwenden,
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