Arm und Reich
Form und Lage der verschiedenen Kontinente. Ein Unterschied fällt sofort ins Auge: Nord- und Südamerika haben eine viel größere Nord-Süd (über 14 000 km) als Ost-West-Ausdehnung (weniger als 5000 km, mit einer Verengung bis auf ca. 65 km in Panama). Die Hauptachse des amerikanischen Doppelkontinents verläuft mit anderen Worten in Nord-Süd-Richtung. Das gleiche gilt für Afrika, wenn auch in weniger starker Ausprägung. Demgegenüber verläuft die Hauptachse Eurasiens von Ost nach West. Ob wohl diese Unterschiede in der Ausrichtung der Kontinentalachsen für den Verlauf der Menschheitsgeschichte bedeutsam waren? Und wenn ja, inwiefern? In diesem Kapitel geht es um die nach meiner Auffassung äußerst schwerwiegenden, in mancher Hinsicht tragischen Konsequenzen des unterschiedlichen Achsenverlaufs. Die Nord-Süd- beziehungsweise Ost-West-Ausrichtung der Kontinente beeinflußte das Tempo der Ausbreitung von Kulturpflanzen und Haustieren, aber möglicherweise auch der Schrift, des Rades und anderer Erfindungen. Auf diese Weise trug ein Grundmerkmal der Geographie unseres Planeten in entscheidender Weise zu den sehr unterschiedlichen Schicksalen bei, die den Bewohnern Amerikas, Afrikas und Eurasiens in den letzten 500 Jahren zuteil wurden.
Abbildung 9.1 Hauptachsen der Kontinente
Die Ausbreitung der Landwirtschaft war für die Herausbildung der Ungleichheit menschlicher Gesellschaften im Grunde von ebenso großer Bedeutung wie ihre Entstehung, die uns in den vorangegangenen Kapiteln beschäftigte. Der Grund liegt darin, daß es – wie wir in Kapitel 4 erfahren haben – auf der ganzen Welt höchstens neun (und vielleicht sogar nur fünf) Regionen gab, in denen die Landwirtschaft unabhängig entstand. Schon in vorgeschichtlicher Zeit wurde jedoch außer in den wenigen ursprünglichen Entstehungs gebieten in vielen weiteren Regionen Landwirtschaft betrieben. Möglich wurde dies in allen Fällen durch die Ausbreitung von Kulturpflanzen, Haustieren und bäuerlichen Kenntnissen beziehungsweise in einigen Fällen durch die Zuwanderung von Ackerbauern und Viehzüchtern. Die bedeutendsten derartigen Ausbreitungsbewegungen verliefen von Vorderasien nach Europa, Ägypten und Nordafrika, Äthiopien, Zentralasien und ins Industal; von der Sahelzone und Westafrika nach Ost- und Südafrika; von China nach Südostasien – einschließlich der Philippinen und Indonesiens – sowie nach Korea und Japan; und von Mesoamerika nach Nordamerika. Daneben wurde die Landwirtschaft selbst in ihren ursprünglichen Herkunftsgebieten durch zusätzliche Anbaupflanzen, Viehsorten und Techniken aus anderen Entstehungsgebieten ergänzt und bereichert.
So, wie sich einige Regionen als besonders geeignet für die Entstehung von Ackerbau und Viehzucht erwiesen, zeigten sich auch bei deren Ausbreitung große regionale Unterschiede. Einige Regionen mit ausgesprochen günstigen Umweltbedingungen wurden in vorgeschichtlicher Zeit überhaupt nicht landwirtschaftlich genutzt, obwohl sie nicht weit von Regionen entfernt lagen, in denen die Landwirtschaft bereits Einzug gehalten hatte. Die auffallendsten Beispiele sind das präkolumbianische Kalifornien, wohin Ackerbau und Viehzucht aus dem amerikanischen Südwesten nicht vordrangen; Australien, das trotz der Nähe Neuguineas und Indonesiens landwirtschaftlich unberührt blieb; und die südafrikanische Kapprovinz, die landwirtschaftliches Brachland blieb, obwohl im nahegelegenen Natal längst Ackerbau betrieben wurde. Überdies unterschieden sich selbst bei all jenen Regionen, in die sich die Landwirtschaft in vorgeschichtlicher Zeit ausbreitete, Tempo und Zeitpunkt der Ausbreitung erheblich. Ein Extrem bildete die rasche Ausbreitung entlang der Ost-West-Achsen: von Vorderasien westwärts nach Europa und Ägypten beziehungsweise ostwärts zum Industal (mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von ca. 1,1 Kilometer pro Jahr) sowie von den Philippinen ostwärts nach Polynesien (5,1 Kilometer pro Jahr). Das umgekehrte Extrem bildete die langsame Ausbreitung entlang der Nord-Süd-Achsen: von Mexiko nordwärts in den Südwesten der heutigen USA mit weniger als 800 Metern pro Jahr, von Mexiko in den Osten der heutigen USA, wo Mais und Bohnen um 900 n. Chr. eingeführt wurden, mit knapp 500 Metern pro Jahr, und von Peru nordwärts nach Ecuador (in Gestalt des Lamas) mit ca. 300 Metern pro Jahr. Die Unterschiede wären noch viel gravierender, wenn Mais in
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