Arm und Reich
und bekämpfen jeden Artgenossen, der in die Nähe kommt. Dies gilt für die meisten Hirsch- und Antilopenarten (wiederum mit Ausnahme des Rentiers) und ist einer der Hauptgründe dafür, daß keine der vielen in Herden lebenden Antilopenarten, für die Afrika so berühmt ist, domestiziert werden konnte. Bei afrikanischen Antilopen denkt man vielleicht zuerst an »endlose Herden, so weit das Auge reicht«. Während der Brunst suchen sich die Männchen jedoch eigene Reviere, die sie gegen jeden Rivalen heftig verteidigen. Aus diesem Grund können Antilopen nicht in großer Zahl zusammengesperrt werden, wie es sich Schafe, Ziegen und Rinder klaglos gefallen lassen. Bei Nashörnern gesellen sich zum Territorialverhalten noch Aggressivität und langsames Wachstum als weitere Gründe, die ihnen den Platz im Stall verwehren.
Vielen Herdentieren, so auch den meisten Hirsch- und Antilopenarten, mangelt es schließlich an einer ausgeprägten Dominanzordnung. Ihnen fehlt auch die instinktive Veranlagung zur Prägung auf einen ranghöheren Anführer (als Voraussetzung für die »Fehlprägung« auf einen Menschen). Deshalb konnten zwar zahlreiche einzelne Rehe und Antilopen gezähmt werden (Bambi läßt grüßen), doch es gelang nie, sie in Herden zu halten, wie etwa Schafe. An diesem Problem scheiterte auch die Domestikation des nordamerikanischen Dickhornschafs, das zur gleichen Gattung gehört wie das asiatische Mufflon, der Vorfahre unseres Hausschafs. Dickhornschafe haben zahlreiche für den Menschen nützliche Eigenschaften und ähneln Mufflons in vieler Hinsicht, mit einer entscheidenden Ausnahme: Ihnen fehlt die stereotype Verhaltensweise, daß sie sich einer Rangordnung unterwerfen.
Ich will nun auf das Paradoxon vom Beginn dieses Kapitels zurückkommen. Bei der Beschäftigung mit der Domestikation von Tieren steht man zunächst vor einem Rätsel, wenn man zu erklären versucht, warum einige Arten scheinbar willkürlich domestiziert wurden, ihre engen Verwandten jedoch nicht. Wie sich bei näherer Untersuchung zeigt, hat das Anna-Karenina-Prinzip viel damit zu tun, warum alle bis auf eine kleine Zahl von Kandidaten aus dem Rennen schieden. Mensch und Tier – diese Kombination ergibt bei den allermeisten Arten eine unglückliche Ehe, und zwar aus jeweils einem oder mehreren von vielen möglichen Gründen. Hierzu zählen Ernährungsgewohnheiten, Wachstumstempo, Paarungsverhalten, Temperament, Neigung zu Panik sowie mehrere spezifische Merkmale des sozialen Zusammenlebens. Nur ein kleiner Prozentsatz aller Säugetierarten fuhr in den »Hafen der Ehe« mit dem Menschen ein. Als Voraussetzung mußten beide Partner in jedem einzelnen Aspekt gut miteinander harmonieren.
Den Völkern Eurasiens wurde eine wesentlich größere Zahl pflanzenfressender Säugetiere, die sich zur Domestikation eigneten, in die Wiege gelegt als den Völkern der anderen Kontinente. Dieses Faktum, das von immenser Tragweite für den weiteren Verlauf der Geschichte war, hat drei grundlegende geographische, historische und biologische Ursachen: Erstens besaß Eurasien entsprechend seiner großen Landmasse und ökologischen Vielfalt von vornherein die meisten Kandidaten. Zweitens verloren Australien, Nord- und Südamerika, nicht aber Eurasien und Afrika, die meisten ihrer Domestikationskandidaten in einer gewaltigen Welle des Artensterbens, die sich gegen Ende des Pleistozäns ereignete und die möglicherweise dadurch ausgelöst wurde, daß die zuerst genannten Kontinente die Bekanntschaft des Menschen relativ plötzlich und spät in der Evolutionsgeschichte machten, als wir bereits beachtliche Jagdfertigkeiten besaßen. Und schließlich war in Eurasien ein höherer Prozentsatz der überlebenden Kandidaten als auf den anderen Kontinenten zur Domestikation geeignet. Die nähere Untersuchung jener grundsätzlich in Frage kommenden Arten, die nicht domestiziert wurden, wie beispielsweise die großen afrikanischen Herdentiere, zeigt uns im einzelnen, woran die Domestikation scheiterte. Sicher hätte Tolstoi der Erkenntnis zugestimmt, die ein früherer Autor, der heilige Matthäus, in anderem Zusammenhang verkündete: »Viele werden gerufen, doch nur wenige werden auserwählt.«
KAPITEL 9
Achsen und das Rad der Geschichte
Warum die Ausbreitung der Landwirtschaft auf verschiedenen Kontinenten in unterschiedlichem Tempoverlief
V ergleichen Sie auf der Weltkarte (Abbildung 9.1) einmal
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