Arm und Reich
Versuchen innerhalb oder außerhalb dieser Region zuvor, die gleichen wildwachsenden Ahnenpflanzen zu domestizieren. Nachdem die Kulturformen einmal vorhanden waren, brauchte man ihre Früchte nicht mehr in der Natur zu sammeln und den mühsamen Weg der Domestikation erneut zu beschreiten.
Die Vorfahren der meisten Gründerpflanzen haben in Vorderasien, aber auch in anderen Regionen wildwachsende Verwandte, die ebenfalls zur Domestikation geeignet gewesen wären. Erbsen beispielsweise gehören zur Gattung Pisum , die zwei wildwachsende Arten umfaßt: Pisum sativum , aus der unsere Gartenerbse gezüchtet wurde, und Pisum fulvum , die nie domestiziert wurde. Wilderbsen der Art Pisum fulvum haben allerdings in frischer oder getrockneter Form ebenfalls einen angenehmen Geschmack und sind in der Natur weit verbreitet. Ähnlich besitzen die domestizierten Formen von Weizen, Gerste, Linsen, Kichererbsen, Bohnen und Flachs zahlreiche wildwachsende Verwandte. Bei Gerste und Bohnen wurden einige der verwandten Arten tatsächlich in Nord- und Südamerika beziehungsweise in China eigenständig domestiziert, also weit entfernt vom Ort der frühen Domestikation in Vorderasien. Im westlichen Eurasien wurde jedoch von mehreren potentiell nützlichen Wildarten nur eine einzige domestiziert – wahrscheinlich deshalb, weil sich diese eine so rasch verbreitete, daß die Menschen sich bald von den wildwachsenden Verwandten abwendeten und nur noch die Früchte der Kulturform verzehrten. Auch hier war es wieder die rasche Ausbreitung der Kulturform, die weiteren Versuchen zur Domestikation verwandter Arten beziehungsweise zur erneuten Domestikation der Ahnenpflanze zuvorkam.
Warum vollzog sich die Ausbreitung von Kulturpflanzen aus Vorderasien in so raschem Tempo? Einen Teil der Antwort liefert die Ost-West-Achse Eurasiens, auf die ich bereits am Anfang dieses Kapitels hingewiesen habe. An Orten, die östlich oder westlich voneinander auf demselben geographischen Breitengrad liegen, sind die Tage genau gleich lang, und auch die jahreszeitlichen Schwankungen sind identisch. Übereinstimmung, obwohl weniger stark, herrscht auch bei Temperaturen und Niederschlagsmengen, Krankheiten und Lebensräumen beziehungsweise Biomen (Vegetationstypen). So ist beispielsweise die klimatische Ähnlichkeit zwischen Süditalien, dem Nordiran und Japan, die alle ungefähr auf demselben Breitengrad, nur jeweils etwa 6500 km östlich beziehungsweise westlich voneinander, liegen, erheblich größer als zwischen jeder dieser Regionen und nur 1500 km weiter südlich gelegenen Orten. Auf allen Kontinenten beschränkt sich der Lebensraumtypus, den wir als tropischen Regenwald bezeichnen, auf einen Raum, der sich zwischen dem 10. Grad nördlicher und südlicher Breite erstreckt, während mediterranes Buschland (wie beispielsweise der kalifornische Chaparral und der europäische Maquis) etwa zwischen 30 und 40 Grad nördlicher Breite zu finden ist. Keimung, Wachstum und Krankheitsresistenz der Pflanzen sind aber genau an die Merkmale des jeweiligen lokalen Klimas angepaßt. Jahreszeitliche Unterschiede der Tageslänge, Temperatur und Nieder schlagsmenge geben Samen das Signal zur Keimung, Sämlingen das Signal zum Wachsen und ausgewachsenen Pflanzen das Signal zur Blüten-, Samen- und Fruchtbildung. Jede Pflanzenpopulation wird durch die natürliche Selektion genetisch darauf programmiert, richtig auf diese im Jahreszeitenrhythmus variierenden Signale, an die sie sich im Laufe der Evolution angepaßt hat, zu reagieren. Je nach geographischer Lage unterscheiden sich die Signale erheblich. So sind die Tage am Äquator das ganze Jahr über gleich lang, während sie in den gemäßigten Breiten in den Monaten zwischen Winter- und Sommersonnenwende länger und die nächsten sechs Monate wieder kürzer werden. Die Zeit des Pflanzenwachstums – also die Monate mit Temperaturen und Tageslängen, die dem Wachstum der Pflanzen förderlich sind – ist in den hohen Breitengraden am kürzesten und in Äquatornähe am längsten. Darüber hinaus besitzen Pflanzen auch eine Anpassung an die in ihrem Lebensraum verbreiteten Krankheiten.
Wehe der Pflanze, deren genetisches Programm nicht zu dem Breitengrad paßt, an dem sie in die Erde gepflanzt wird! Man stelle sich einen kanadischen Bauern vor, der eine Maissorte anzubauen versucht, die an die Verhältnisse im viel weiter südlich gelegenen Mexiko angepaßt ist. Ihr
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