Arm und Reich
genetisches Programm würde dieser Pflanze schon im März das Signal geben, ihre Triebe auszustrecken – um dann festzustellen, daß sie noch unter drei Meter Schnee begraben liegt. Wäre eine genetische Umprogrammierung möglich, so daß unser Pflänzlein zu einem für Kanada geeigneteren Zeitpunkt keimen würde, sagen wir Ende Juni, so würde gleich das nächste Problem auf sie warten. Unter Beachtung der in ihrem Erbgut gespeicherten Informationen würde sie nämlich ein gemächliches Wachstumstempo an den Tag legen und erst nach fünf Monaten voll ausgereift sein. Das wäre im milden Klima Mexikos kein Problem, in Kanada jedoch verhängnisvoll, da der Herbstfrost die Pflanze abtöten würde, noch bevor die Maiskolben ausgereift wären. Außerdem würden ihr die Gene fehlen, um sich gegen typische Krankheiten nördlicher Klimazonen zur Wehr zu setzen, während sie andererseits nutzlose Gene zum Schutz gegen Krankheiten des Südens besäße. Aus all diesen Gründen sind Pflanzen aus niedrigen geographischen Breiten schlecht an die Verhältnisse in hohen Breiten angepaßt und umgekehrt. Infolgedessen gedeihen die meisten Anbaupflanzen aus Vorderasien in Frankreich und Japan prächtig, am Äquator jedoch gar nicht gut.
Tiere sind ebenfalls an breitengradabhängige klimatische Gegebenheiten angepaßt. Das können wir sehr gut an uns selbst beobachten. Einige Menschen können die kalten nördlichen Winter mit ihren kurzen Tagen und typischen Krankheitserregern nicht vertragen, während andere das tropische Klima und tropische Krankheiten nicht verkraften. In den letzten Jahrhunderten richtete sich die Auswanderung von Kolonisten aus dem kühlen Nordeuropa vorzugsweise auf Regionen mit ebenfalls kühlem Klima in Nordamerika, Australien und Südafrika; in äquatornahen Ländern wie Kenia und Neuguinea ließen sich Europäer hauptsächlich in kühleren Hochlandregionen nieder. Nordeuropäer, die in heiße tropische Tieflandgebiete entsandt wurden, starben scharenweise an Krankheiten wie Malaria, gegen die tropische Völker wenigstens teilweise resistent sind.
Hierin liegt ein weiterer Teil der Erklärung, warum sich die in Vorderasien domestizierten Tiere und Pflanzen so rasch nach Westen und Osten ausbreiteten: Sie waren von vornherein gut an das Klima der Regionen, in die sie gelangten, angepaßt. Nachdem die Landwirtschaft das ungarische Tiefland passiert und um 5400 v. Chr. Mitteleuropa erreicht hatte, breitete sie sich so rasch aus, daß die ersten bäuerlichen Siedlungen in einem Gebiet, das von Polen bis nach Holland reichte, fast gleichzeitig entstanden (erkennbar an den typischen Keramiken mit Linearornamenten). Zu Beginn unserer Zeitrechnung waren die Getreidearten aus Vorderasien bereits in einem Raum verbreitet, der sich über mehr als 15 000 Kilometer von der Atlantikküste Irlands bis zur Pazifikküste Japans erstreckte. Die West-Ost-Ausdehnung Eurasiens stellt die größte Landentfernung auf unserem Planeten dar.
Es war also Eurasiens West-Ost-Achse zu verdanken, daß die Anbaugewächse aus Vorderasien binnen relativ kurzer Zeit in den verschiedenen Breiten der gemäßigten Klimazone, von Irland bis zum Industal, der Landwirtschaft zur Entstehung verhelfen beziehungsweise die in Ostasien unabhängig entstandene Landwirtschaft bereichern konnten. In umgekehrter Richtung fanden eurasische Kulturpflanzen, deren erste Domestikation weit von Vorderasien entfernt, aber auf gleicher geographischer Höhe erfolgt war, den Weg nach Vorderasien. Im heutigen Zeitalter des weltweiten Handelsverkehrs per Schiff und Flugzeug nimmt kaum noch jemand davon Notiz, daß sich unsere Nahrung aus einem geographischen Mischmasch zusammensetzt. Eine typische Mahlzeit in einem amerikanischen Schnellrestaurant besteht zum Beispiel aus Huhn (Erstdomestikation in China) und Kartoffeln (aus den Anden) oder Mais (aus Mexiko), gewürzt mit Pfeffer (aus Indien) und heruntergespült mit einer Tasse Kaffee (aus Äthiopien). Die alten Römer ernährten sich indes schon vor 2000 Jahren von einer bunten Mischung aus Lebensmitteln überwiegend fremder Herkunft. Von Roms Nahrungspflanzen waren nur zwei – Hafer und Mohn – in Italien heimisch. Hauptsächlich speisten die Römer hingegen die Früchte der Gründerpflanzen aus Vorderasien, ergänzt durch Quitten (aus dem Kaukasus), Hirse und Kreuzkümmel (in Zentralasien domestiziert), Gurken, Sesam und Zitrusfrüchte (aus Indien)
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