Armageddon 04 - Der Neutronium-Alchimist
Weise konnte er uns entkommen.«
»Du meinst, er steckt in den Abwasserrohren?«
»Ja.«
Bonney starrte auf die Wand. Sie spürte die Gedankenroutinen, die in einer Entfernung von vielleicht einem Meter unter dem nackten Polyp arbeiteten. Auf seine eigene Weise erwiderte Rubra ihren Blick. Er strahlte Zufriedenheit aus.
Bonney wußte nichts über die Abwasserrohre – nur, wie offensichtlich alles im nachhinein betrachtet war. Und Rubra besaß die absolute Kontrolle über jedes einzelne Teilchen der Lebenserhaltungssysteme des Habitats. Sie hatten Dariat ein paar kurze Sekunden lang gespürt, und die wilde Jagd war losgegangen. Dann war Dariat wieder verschwunden. Wenn die Abwasserrohre ihn so gründlich verbergen konnten, dann hätten sie ihn eigentlich niemals entdecken dürfen.
»Raus!« brüllte sie in das Walkie-talkie. »Macht, daß ihr da raus kommt! Sofort! Stanyon, verdammte Scheiße, bewegt euch!«
Rubra öffnete die Muskelmembransphinkter der Rohre, die in die neunundvierzigste, fünfzigste und einundfünfzigste Etage führten. Der Druck einer dreißig Stockwerke hohen Wassersäule in dem mächtigen Aufnahmetrakt war unbeschreiblich.
Stanyon sah, wie der Cyber-Ninja wie eine Kanonenkugel aus dem ruinierten Muskelkonus schoß und gegen die Decke prallte. Der Luftdruck, der ihn dorthin geblasen hatte, wich einer massiven Wassersäule, die aus dem Loch jagte und den Besessenen traf, der mit ausgebreiteten Gliedern an der Decke klebte. Das Brüllen war so laut wie der Lärm einer Sinnesüberladungsgranate. Stanyons Haut warf Blasen, als seine Kapillaren platzten. Bevor er schreien konnte, war der Raum mit einem Hochgeschwindigkeitsregen gefüllt, der ihn von den Füßen hämmerte wie eine Salve aus Gummigeschossen. Er krachte gegen das Bad, wo eine dünne kerzengerade Wassersäule aus dem Ausguß schoß. Es hätte genausogut eine Kettensäge sein können.
Überall auf den drei zum Untergang verurteilten Etagen spielte sich in jedem Badezimmer, in jeder Toilette, in jeder Küche und in jeder öffentlichen Bedürfnisanstalt die gleiche Szenerie ab. Die Beleuchtung war ausgegangen, und in die stockfinstere Nacht kam das Wasser, eisige schäumende Fluten, die durch Zimmer und Vorhallen schossen wie eine horizontale Guillotine.
Tatiana schrie angstvoll auf, als das Wasser in dem Trakt sank. Dariat bemerkte, daß sie am Rand entlang zu kreisen begannen, langsam erst, dann immer schneller. Kleine Wellen gingen hin und her und schwappten gegeneinander, bis sich zitternde kleine Wassertürmchen bildeten. Ein lautes Gurgeln erklang, als das Wasser immer schneller fiel.
Dariat beobachtete voller Bestürzung, wie sich ein Strudel zu bilden begann. Der Wasserspiegel in der Mitte lag merkbar tiefer als an den Rändern. Sie wurden nach innen gezogen. Das Gurgeln wurde mit jeder Sekunde lauter.
– Rubra!
– Keine Sorge. Noch dreißig Sekunden, dann ist alles vorbei.
Bonney war der rasenden Wut hilflos ausgeliefert, die sich ringsum erhob – von der Schar Verlorener Seelen, die sich aus den gefangenen Körpern erhob, um das Universum zu verlassen und in das Jenseits zurückzukehren. Ihre Bitterkeit und ihr Schreien war schlimmer als jeder körperliche Schmerz. Sie waren zu nah, zu stark, um ihnen zu entgehen; rohe Emotion, die in unerträgliche Höhen verstärkt war.
Bonney sank auf die Knie. Ihre Muskeln verkrampften sich, und Tränen schossen ihr in die Augen. Ihre eigene Seele lief Gefahr, einfach mitgerissen zu werden in dem Strom, einer Prozession, die zum Mitmachen zwang. Sie ballte die Hände zu Fäusten und hämmerte auf die Treppe aus Polyp. Der Schmerz war kaum mehr als ein sanftes Zwicken gegen den Zwang, zu den Verdammten zurückzukehren. Also schlug sie fester, noch fester. Noch fester.
Endlich war das Blutbad vorbei, und die drei Stockwerke bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Kleine Wasserfontänen spritzten aus den Dichtungen einiger Feuertüren und füllten die leeren Schächte langsam, aber sicher mit einem dünnen Nieseln, doch die Türen widerstanden dem Druck. Genau wie die Muskelmembran des Treppenhauses in der zweiundfünfzigsten Etage, die verhinderte, daß die darunter liegenden Bereiche des Sternenkratzers volliefen. Zerschmetterte Leichen, die gegen die Decken geschleudert worden waren, sanken langsam zu Boden, als die Restluft aus ihren Wunden entwich und in einem Strom von verdünntem Blut nach oben stieg.
Der Aufnahmetrakt des Sternenkratzers veränderte das Gurgeln des
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