Armageddon 05 - Die Besessenen
Wache.
Luca spornte sein Tier über die Kanalbrücke, eine Bogenkonstruktion aus Holz und Eisen, ganz in der viktorianischen Tradition. Die Brücke war ein weiteres Renovierungsprojekt des Rates. Zwischen den ursprünglichen, verwitterten Balken saßen echte neue Planken mit richtigen Zinken, und energistische Kräfte hatten die Eisenträger wieder erstehen lassen, die im Verlauf der Kämpfe zerfetzt und verbogen worden waren. (Irgendwie hatten sie es nicht ganz geschafft, die blaue Farbe zu kopieren, daher waren die neuen Sektionen deutlich erkennbar.)
Die Moulin de Hurley befand sich am anderen Ufer, eine große Mühle, die nahezu ein Viertel von ganz Kesteveen Island mit Mehl versorgte. Das Gebäude war aus dunkelroten Ziegeln gemauert und besaß große Fenster mit schmiedeeisernen Rahmen; ein Ende ragte über einen kleinen Bach, der lebhaft unter einem gemauerten Bogen hervorsprudelte und in den Kanal am Ende des Kais mündete. Eine Reihe von Speicherteichen, gesäumt von alten Bäumen, erstreckte sich den sanften Hang hinauf, der hinter dem Gebäude das Tal abschloß.
Beim Tor der Mühle wartete eine Gruppe von Helfern auf ihn, die der Rat von Colsterworth abgestellt hatte. Ihre Anführerin, Marcella Rye, stand direkt unter dem eisernen Torbogen, in dessen Giebel der kunstvolle Buchstabe K eingelassen war. In Luca regte sich ein warmes Gefühl der Zufriedenheit. Schließlich war er der Besitzer der Mühle. Nein! Die Kavanaghs. Die Kavanaghs besaßen die Mühle. Hatten sie besessen.
Luca begrüßte Marcella herzlich in der Hoffnung, daß seine Jovialität sie über die momentane Gefühlsaufwallung hinwegtäuschen würde. »Ich schätze, es wird nicht besonders schwierig werden, diese Mühle wieder in Schuß zu bringen«, sagte er wortreich. »Der große Mahlmechanismus wird von Wasserkraft angetrieben, und es gibt ein geothermisches Kabel, mit dessen Hilfe wir die kleineren Apparate betreiben können. Eigentlich müßte noch immer Elektrizität vorhanden sein.«
»Das freut mich zu hören. Die Speicher sind natürlich alle geplündert.« Sie deutete auf die Gruppe von großen Nebengebäuden. Die massiven hölzernen Türen waren aufgebrochen, zersplittert und verbrannt und hingen schief in den Angeln. »Nachdem das Mehl erst verschwunden war, hat sich niemand mehr hierher verirrt.«
»Sehr gut. Solange es keinen …« Luca verstummte, als er mit einem Mal alarmierte Panik in Johans Gedanken verspürte. Er wandte sich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie Johan unsicher taumelte und auf die Knie sank. »Was ist …?«
Johans jugendliche Umrisse verschwammen, als er die Faust gegen die Stirn preßte. Sein Gesicht war in schmerzhafter Konzentration verzerrt.
Luca kniete neben ihm nieder. »Scheiße, was ist mit dir?«
»Nichts«, ächzte Johan. »Nichts. Ich bin in Ordnung. Mir ist nur ein wenig schwindlig, das ist alles.« Schweiß glitzerte auf seiner Stirn und seinen Handrücken. »Die Hitze vom Reiten macht mir zu schaffen. Es ist gleich wieder vorbei, bestimmt.« Schwer atmend mühte er sich auf die Beine.
Luca musterte ihn verwirrt; er begriff überhaupt nichts mehr. Wie konnte jemand in einem Universum krank werden, wo ein einziger Gedanke die Kraft der Schöpfung besaß? Doch die Körper gehorchten ihren Besitzern nicht uneingeschränkt. Sie mußten beispielsweise essen und trinken. Johan schien einen ernsthaften Kater zu haben; trotzdem, sein Stellvertreter war eigentlich niemand, der sich bis zur Besinnungslosigkeit betrank.
Marcella hatte den Zwischenfall stirnrunzelnd beobachtet. Luca spürte ihre Unsicherheit. Johan zwang sich zu einem entschlossenen Nicken: Ich bin wieder in Ordnung. »Wir gehen besser rein«, sagte er.
Seit den Tagen von Quinn Dexters Ankunft in der Stadt hatte niemand mehr die Mühle betreten. Es war kühl im Innern, die Stromversorgung war abgeschaltet, und die großen getönten Glasfenster dämpften das einfallende Licht zu einem tristen Grau. Luca führte die Gruppe an den Maschinen vorbei. Große, sperrige Apparate aus rostfreiem Edelstahl thronten stumm auf Ladebrücken über geschwungenen Fließbändern.
»Der eigentliche Mahlvorgang findet dort hinten statt«, erklärte Luca. »Dann wird das Mehl in diesen Maschinen hier gemischt und raffiniert und in Säcke und Tüten abgefüllt. Wir haben früher zwölf verschiedene Sorten hergestellt: Einfaches, Selbstgehendes, Vollkorn, Gesalzenes, Weißstärke … was ihr wollt. Wir haben es auf der gesamten Insel
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