Armageddon 06 - Der nackte Gott
machte all die Komplikationen ein gutes Stück erträglicher.
»Ich dachte, es wäre vielleicht besser, ihn nicht zu fragen. Ihr beide habt bereits genug durchgemacht, und ihr seid über ihn hinweggekommen. Es tut mir leid.«
»Und warum erzählst du uns das jetzt?« fragte Louise wütend und mißtrauisch zugleich.
»Verzweifelte Zeiten«, antwortete Charlie tonlos.
»Oh.« Louise sank zusammen, als das Begreifen einsetzte. Sie fragte sich, wie tiefgründig seine Art der Manipulation reichte. »Ich werde ihn für dich bitten.«
»Danke, Louise.«
»Unter einer Bedingung. Genevieve wird nach Tranquility gebracht. Heute noch.«
»Louise!« kreischte ihre kleine Schwester.
»Keine Widerrede«, sagte Louise.
»Selbstverständlich«, stimmte Charlie zu. »Ich sorge dafür.«
Genevieve stemmte die Hände in die Hüften. »Ich will aber nicht!«
»Du mußt, Kleine. In Tranquility bist du sicher. Wirklich sicher, nicht wie hier auf diesem Planeten.«
»Gut. Dann kommst du auch mit.«
»Ich kann nicht.«
»Warum nicht?« Das junge Mädchen kämpfte mit den Tränen. »Fletcher möchte, daß du in Sicherheit bist. Du weißt, wie sehr er sich das wünscht.«
»Ich weiß. Aber ich bin die Garantie dafür, daß er macht, um was wir ihn bitten.«
»Selbstverständlich wird er diesen Dexter töten! Er haßt ihn, du weißt, daß er ihn haßt. Wie um alles in der Welt kannst du nur so schlecht von ihm denken? Das ist schrecklich, Louise, wirklich schrecklich!«
»Ich denke nicht schlecht von Fletcher. Aber andere tun es.«
»Charlie nicht. Oder, Charlie?«
»Nein, ich denke bestimmt nicht schlecht von Fletcher. Doch meine werten Kollegen von B7 werden Garantien verlangen.«
»Ich hasse dich!« schrie Genevieve. »Ich hasse euch alle! Und ich gehe nicht nach Tranquility!« Sie wirbelte herum und rannte über den Rasen in Richtung des Hauses davon.
»Meine Güte!« sagte Charlie. »Ich hoffe, sie beruhigt sich wieder.«
»Ach, halt die Klappe«, fuhr Louise ihn an. »Oder hab wenigstens den Mut einzugestehen, was du bist. Oder hast du den vielleicht auch verloren, zusammen mit dem Rest an Menschlichkeit?«
Für einen winzigen Augenblick sah sie sein wahres Selbst, als ein Anflug von Zorn über seine Gesichtszüge huschte. Ein Jahrhunderte altes Bewußtsein, das sie nüchtern durch die Augen eines jugendlichen Körpers betrachtete. Sein Körper war eine geschicktere Illusion als alles, was die Realdysfunktion der Besessenen je erreichen konnte. Alles, was er tat, jede Emotion, die er zeigte, war nichts weiter als ein mentaler Zustand, den er nach Belieben benutzte, wo es ihm angebracht erschien. Fünf Jahrhunderte Leben hatten Charlie ein ganzes Paket beinahe-automatischer Reaktionen auf seine Umwelt entwickeln lassen. Äußerst raffinierter Reaktionen, doch sie wurzelten in nichts, was Louise als menschlich wiedererkannt hätte. Die Weisheit einer halben Ewigkeit hatte ihn weit über die Ursprünge eines gewöhnlichen Menschen erhoben.
Sie eilte ihrer Schwester hinterher.
Die Verbindung zum O’Neill-Halo wurde über einen großen Holoschirm in einem der Gesellschaftsräume hergestellt. Louise saß vor dem Schirm auf einem Sofa, und Genevieve hatte sich an ihre Seite gekuschelt. Das junge Mädchen hatte sich die Seele ausgeweint – vergeblich. Es hatte die Willensschlacht gegen Louise verloren. Wenn das hier vorbei war, würde Genevieve nach Tranquility fliegen. Louise fühlte sich deswegen nicht viel besser.
Blaue Linien flackerten in Wellen aus dem Holoschirm, und ein Bild nahm Form an. Fletcher saß an einem Metallschreibtisch, gekleidet in die Uniform der britischen Marine seiner Zeit. Er blinzelte, schielte in die Aufnahmeoptik und lächelte dann.
»Meine werten Ladies, ich kann Euch gar nicht sagen, wie froh ich bin, Euch in Sicherheit zu sehen.«
»Hallo Fletcher«, erwiderte Louise seinen Gruß. »Geht es Ihnen gut?«
Genevieve lächelte strahlend und winkte ihm frenetisch zu.
»Es scheint so, werte Lady Louise. Die Gelehrten dieser Zeit haben mich ganz schön in Atem gehalten und meine armen alten Knochen mit ihren Maschinen gepiesackt. Viel genutzt hat es ihnen indes nicht; sie gestehen freimütig ein, daß unser lieber Gott im Himmel eifersüchtig über die Geheimnisse Seiner Schöpfung wacht.«
»Ich weiß«, erwiderte Louise. »Keiner hier unten hat auch nur die geringste Ahnung, was zu tun ist.«
»Und Ihr, Lady Louise? Wie geht es Euch und der kleinen Dame?«
»Mir geht’s prima!«
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