Armageddon 06 - Der nackte Gott
hatten. Er war vom Tod umgeben, und der Tod machte ihn zu einem willfährigeren Werkzeug, als es eine Sequestrierungsnanonik je vermocht hätte. Tod und Liebe. Er durfte nicht zulassen, daß der kleine Webster und Clarissa im Jenseits verschwanden. Nicht jetzt. Oder daß sie von Possessoren übernommen wurden. Es gab nur einen Weg, das zu verhindern, und auch er war grundfalsch.
Wie die meisten Männer in Kingsley Pryors Position im Verlauf der menschlichen Geschichte, so tat auch er nichts, während die Ereignisse ihrem unweigerlichen Höhepunkt entgegentrieben; er wartete einfach und betete, daß sich wie aus dem Nichts eine magische dritte Option auftat. Doch jetzt, nachdem die Fusionsantriebe die Villeneuve’s Revenge in Richtung Trafalgar schoben, verließ ihn schlagartig alle Hoffnung. Er war mit einer irrsinnigen Macht ausgestattet, mit dem einzigen Ziel, Leiden zu verursachen, und doch spürte er auf der anderen Seite Webster und Clarissa. Die beiden Gegenpole balancierten sich perfekt aus, genau wie Capone es gewußt hatte. Kingsley Pryor mußte eine unmögliche Wahl treffen. Eine Wahl zwischen dem Unaussprechlichen und seiner Familie.
Der Kabinensensor besaß genügend Auflösungsvermögen, um das bittere Lächeln zu entdecken, das über sein Gesicht huschte. Er sah aus, als würde er jeden Augenblick die Beherrschung verlieren. Die KNIS-Offizierin schüttelte den Kopf, als sie sein Verhalten bemerkte. Der sieht aus, als hätte er den Verstand verloren, dachte sie. Obwohl er sich nach außen hin passiv verhielt.
Was der Sensor nicht zeigte war der Fleck in der Luft, der sich direkt neben Kingsleys Pritsche verdickte und die Gestalt Richard Keatons annahm. Er lächelte traurig auf den unglücklichen Offizier der Navy hinab.
»Wer sind Sie?« fragte Kingsley heiser. »Wie haben Sie sich an Bord versteckt?«
»Das habe ich nicht«, antwortete Richard. »Ich bin kein Besessener, der Sie im Auge behalten soll. Ich bin ein Beobachter, das ist alles. Bitte fragen Sie nicht für wen oder warum. Ich würde Ihnen die Antwort schuldig bleiben. Aber ich verrate Ihnen, daß Webster vom Monterey entkommen ist. Er ist nicht länger in Capones Gewalt.«
»Webster?« kreischte Kingsley. »Wo ist er?«
»So sicher, wie es im Augenblick nur irgend möglich ist. Er befindet sich an Bord eines abtrünnigen Schiffs, das von niemandem Befehle entgegennimmt.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich bin nicht der einzige, der die Konföderation beobachtet.«
»Ich verstehe das nicht. Warum sagen Sie das?«
»Sie wissen ganz genau warum, Kingsley. Weil Sie eine Entscheidung fällen müssen. Sie sind in einer einzigartigen Position, und Ihre Entscheidung kann die weitere Entwicklung der Menschheit beeinflussen. Es geschieht nicht häufig, daß ein einzelner in eine solche Position gerät, auch wenn Sie die Umstände sicherlich nicht willkommen heißen, die sich daraus ergeben. Ich kann Ihnen diese Entscheidung nicht abnehmen, Kingsley, so gerne ich es auch tun würde. Selbst ich kann die Beschränkungen nicht durchbrechen, die mir auferlegt sind, aber ich kann die Regeln zumindest so weit beugen, daß ich Ihnen sämtliche Fakten zukommen lasse, bevor Sie Ihr Urteil fällen. Sie müssen entscheiden, wann und wo Sie sterben und wer mit Ihnen geht.«
»Das kann ich nicht.«
»Ich weiß. Es ist nicht leicht. Sie möchten, daß der Status Quo lange genug anhält, bis Sie irrelevant geworden sind. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf daraus, aber es wird nicht geschehen. Sie müssen wählen.«
»Wissen Sie, was Capone mit mir gemacht hat? Was ich in mir trage?«
»Ich weiß es.«
»Was würden Sie an meiner Stelle tun?«
»Ich weiß zuviel, um Ihnen das zu verraten.«
»Dann haben Sie mir nicht alles gesagt. Ich muß es wissen. Bitte!«
»Sie suchen nur nach Absolution, Kingsley. Ich kann Ihnen keine Absolution erteilen. Bedenken Sie folgendes: Ich habe Ihnen das erzählt, wovon ich glaube, daß es wichtig ist für Sie. Ihr Sohn wird nicht unter den Taten leiden, die Sie begehen. Weder jetzt noch in absehbarer Zeit.«
»Woher weiß ich, daß Sie die Wahrheit sagen? Und wer sind sie?«
»Ich sage die Wahrheit, Kingsley, weil ich genau weiß, was ich Ihnen sage. Wenn ich nicht wäre, was ich zu sein vorgebe – woher sollte ich dann von Webster und Ihnen wissen?«
»Was soll ich tun? Sagen Sie mir, was ich tun soll.«
»Das habe ich soeben.« Richard Keaton hob die Hand zu einer Geste, die aussah wie Sympathie und Mitgefühl.
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