Arme Milliardäre!: Der große Bluff oder Wie die amerikanische Rechte aus der Krise Kapital schlägt
aufgezogene Veranstaltungen gewannen zunehmend an Spontaneität. Zuerst kursierten Anleitungen von Führungsgruppen, die den Konservativen erläuterten, wie man sich bei einer solchen Fragestunde in der Town Hall Gehör verschafft oder wie man sie sogar sprengt. [12]
Nachdem man so auf eindrucksvolle Weise einige Bürgerversammlungen erfolgreich geschmissen und das für die Nachwelt auf Amateurvideo gebannt hatte, wurde die Sache Mode. Offenbar hatten Tausende nur auf eine Möglichkeit gewartet, gewisse Politiker vor den Augen der ganzen Nation zu demütigen.
Bei besagter Bürgerversammlung ging es um die Vorschläge der Demokraten zur Reform des Gesundheitswesens. Brian Baird, ein netter, umgänglicher demokratischer Kongressabgeordneter in kakifarbenen Hosen und hellem Hemd, hatte sich der Diskussion gestellt. Die Arbeitslosenquote in der Gegend betrug über 10 Prozent, und landauf, landab entlud sich bei solchen Veranstaltungen der Zorn der Bürger. Baird hatte den Fehler begangen, solche Unmutsäußerungen als »Braunhemden-Taktik« zu bezeichnen, und sich damit zur Zielscheibe gemacht.
Dank der allgegenwärtigen Videokameras brachte diese Versammlung die stattliche Figur von David W. Hedrick, Unternehmensberater und ehemaliger Marineinfanterist, ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Im Verlauf der Versammlung waren auch Vorschläge zur staatlichen Förderung von Elternkursen zur Sprache gekommen. Das griff Hedrick auf, als er ans Mikrofon trat, um mit dem Abgeordneten Baird ein Hühnchen zu rupfen. »Sie haben heute Abendüber Kindererziehung gesprochen, oder über die Indoktrination von Kindern, wie immer Sie das nennen wollen«, fing Hedrick an, nachdem er sich vorgestellt hatte. Auf dem Video, das bald berühmt werden sollte, hört man den Kongressabgeordneten eine Erwiderung murmeln, doch bevor er damit zu Ende ist, explodiert Hedrick:
»Finger weg von meinen Kindern!«
Die Zuhörer spenden diesem unerwarteten Angriff tosenden Beifall. Aber der Mann im Publikum fängt da gerade erst an. Dreißig Sekunden später erteilt er dem armen Demokraten »eine kleine Lektion in Geschichte«: »Die Nazis waren eine
nationalsozialistische
Partei.« Diese Nazis, so erläuterte Hedrick – im Einklang mit zahllosen Führungsfiguren der neuen Rechten, die die Amerikaner gerne auch mal über den Zweiten Weltkrieg belehren –, hätten sich dieselben Industriezweige unter den Nagel gerissen, auf die nun auch die Demokraten ein Auge werfen würden: die Banken, die Automobilhersteller, das Gesundheitswesen. Wenn sich also Liberale wie Nancy Pelosi über Leute aufregten, die angeblich ihren Protest mit Hakenkreuzen zum Ausdruck brächten, so der zornige Mann im Parkett mit vor Empörung rauer Stimme, »dann sollte sie vielleicht mal lieber auf ihren eigenen Ärmelaufschlag schauen«.
Da sprang das Publikum von den Stühlen und brachte dem Mann, der offenbar glaubte, wir seien in den Zweiten Weltkrieg gezogen, um die Welt von der Krankenversicherungspflicht zu befreien, stehende Ovationen. Vielleicht applaudierten sie aber auch einfach nur, weil es immer Freude macht, zuzuschauen, wenn jemand einem Politiker gehörig die Meinung geigt, selbst wenn er dabei den größten Unsinn verzapft. Doch Hedrick war noch nicht fertig, einen Vorwurf hatte er noch auf Lager. Er hatte zuvor den Eid erwähnt, den Soldaten und Staatsdiener darauf leisten, die Verfassung »zu unterstützen und zu verteidigen« – für Anhänger gerade der Tea Party eine heilige Verpflichtung –, und das schlug er dem Demokraten nun um die Ohren. »Als Marine«, ereiferte sich Hedrick, »habe ich meinen Schwur gehalten. Haben Sie vor, auch Ihren zu halten?« Der Abgeordnete murmelte eine Antwort, doch der ehemalige Soldathatte sich schon abgewandt und ging, offensichtlich angewidert, an seinen Platz zurück.
Das Video dieser Konfrontation verbreitete sich in Windeseile. Es war schon toll und ermutigend, wie da einer kein Blatt vor den Mund nahm und sich – ganz wörtlich – gegen einen von »denen da oben« erhob. Jedenfalls, wenn man außer Acht lässt, welchen Blödsinn Hedrick eigentlich äußerte. In den Tagen danach war der Clip auf zahllosen konservativen Websites zu sehen. Er lief endlos auf Fox News. Irgendjemand legte ihm Musik unter. Der ehemalige Marine erhielt auch eine Einladung zu einer Fernsehsendung von Sean Hannity, wo er dem Moderator erklärte, dass die Regierungspolitik der Demokraten »beinahe Punkt für Punkt« jener der Nazis
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