Armee der Toten
haben keine Ahnung, wohin er verschwunden sein könnte?«
»Nein«, antwortete sie, »nein, das ist nicht mein Bier, mich darum zu kümmern. Außerdem sagte ich Ihnen ja schon, dass ich ihn gar nicht kenne. Nur in den Erzählungen habe ich von ihm gehört.«
»Wobei die Menschen nicht gut auf ihn zu sprechen waren – oder?«, fragte Karina.
»Das kann ich nicht behaupten. Sie hatten nur keinen Kontakt mit ihm. Er war eben ein Einzelgänger und lebte nur für seine Kunst.«
»Können Sie uns über die etwas sagen?«, erkundigte ich mich.
»Nein. Gesehen habe ich selbst nichts. Ich weiß nur, was sich die Leute erzählten.«
»Und? Was sagten sie?«
Die Bürgermeisterin überlegte eine Weile. »Nun ja, er war wohl ein guter Bildhauer. In kleinen Werken als auch in großen. Man konnte erkennen, was er schuf, wurde gesagt.«
»Aha.«
»Das ist ja heute nicht bei allen Künstlern der Fall.«
»Sie hätten nichts dagegen, wenn wir sein Atelier besichtigen?«, fragte Karina.
»Nein, was sollte ich dagegen haben?«
»Danke.«
»Ich werde aber mit Ihnen kommen, denn ich möchte nicht, dass Sie die Tür aufbrechen müssen, die abgeschlossen ist. Den Schlüssel halte ich in Verwahrung.« Sie lächelte. »Ich bin so etwas wie ein Mädchen für alles hier.«
»Auch Polizistin?«
Sie nickte mir zu. »Zwar nicht direkt, doch ich bin so etwas wie eine Anlaufstelle. Das lebende Sorgentelefon, wenn Sie so wollen. Außerdem, hier passiert ja nichts. Es gibt keine Verbrechen, wir haben hier mal Hühner- oder Gänsediebe, und Moskau ist weit genug von uns entfernt. Von der Russen-Mafia wissen wir so viel wie Sie, Mr. Sinclair. Zumeist nur aus dem Fernsehen.«
»Das hat hier jeder – oder?«
»Ich bitte Sie. Haben Sie nicht die Antennen auf den Dächern gesehen? Es ist die beste Unterhaltung. Vor allen Dingen jetzt, wo die kalte Jahreszeit beginnt. Außerdem habe ich dafür gesorgt, dass ich einen Computer bekomme und online bin.«
Die junge Bürgermeisterin stand auf. »Von mir aus können wir gehen.«
Dagegen hatten auch wir nichts einzuwenden. Ich trank nur noch schnell die Tasse leer, denn der Tee hatte mir wirklich gut geschmeckt. Im Vorzimmer sprach Svetlana Lanski noch kurz mit ihrem Gehilfen, der eifrig nickte und sich wieder hinsetzte, als wir an ihm vorbeigingen.
Ich war gespannt, was uns in Kromow’s Atelier erwartete...
Zunächst konnten wir uns über eine herrliche Spätherbstsonne freuen, die wie ein goldener Ball am Himmel stand und den Wind als Verbündeten bekommen hatte, denn ihm war es gelungen, die Wolken in Richtung Süden zu vertreiben, wo sie als dicke Watteschicht lagen und bewundert werden konnten.
»Können wir zu Fuß gehen?«, fragte Karina.
»Aber klar«, lautete die lachende Antwort. »Hier in Tankow erreicht man alles zu Fuß.«
Über einen schmalen Weg erreichten wir den Rand des Ortes.
Svetlana, die zwischen uns ging und jetzt eine dicke Wolljacke mit Kapuze trug, deutete nach vorn. »Da seht ihr das Haus.«
Die Wiese verlor sich unter unseren Füßen, und sehr bald gingen wir über feuchten Lehmboden hinweg, der wie festgestampft wirkte. Mir fiel ein alter Steintrog auf, der mit Wasser gefüllt war. Ein Stück Zaun lag ebenfalls auf dem Boden, aber ich sah auch noch die Reste von Reifenspuren und musste daran denken, dass der Mann des Öfteren Besuch bekommen hatte.
Es gab keinen Zaun und auch keine Mauer um das Grundstück. Wir kamen völlig normal an das Haus heran und sahen erst jetzt, dass es aus Holz gebaut war. Wenn man von einer Blockhütte sprach, kam man dem Aussehen sehr nahe.
»Holz«, wunderte ich mich.
Svetlana hatte mich gehört. Sie zog den Schlüssel aus der Tasche. »Ja, das war eben das Besondere. Er hat das Holz heranschaffen lassen, und die Menschen im Ort haben sich nur gewundert.«
Ich betrachtete die hellen Birkenstämme, die kaum bearbeitet worden waren. Die schmalen Räume zwischen ihnen waren mit Moos abgedichtet worden.
»Woher haben Sie eigentlich den Schlüssel?«, wollte ich wissen.
Svetlana winkte ab. »Den habe ich mir geholt. Als der Mann verschwunden war, bin ich hier ins Haus gegangen und habe nachgeschaut, was hätte passiert sein können. Da sah ich auch den Schlüssel. Er lag auf dem großen Arbeitstisch wie vergessen. Ich nahm ihn sicherheitshalber an mich und habe das Haus verschlossen.«
»Sie haben den Mann nicht gesehen?«
»Nein, Mr. Sinclair. Ich weiß allerdings, wie er aussieht. Im Haus gibt es ein Foto von ihm. Sie werden
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