Armee der Toten
Wandschmuck bestand aus einem großen Kalender.
Der blasse Knabe kehrte zurück. Etwas verlegen schaute er Karina an und bedeutete uns, dass wir eintreten könnten.
»Danke.« Karina stieß mich leicht an. »Dann wollen wir mal...«
***
Ich bekam leichte Schluckbeschwerden, als ich die Frau sah, die hinter ihrem Schreibtisch saß, sich jetzt erhob und uns anlächelte. Das war keine Bonzin aus der Provinz, sondern eine forsche junge Frau mit naturroten Haaren. Das sehr dichte Haar war ziemlich kurz geschnitten, ohne dass es groß an Volumen verloren hätte. Da lag fast jede Strähne perfekt.
Ein rundes Gesicht mit hellen, grünlichen Augen. Blasse Sommersprossen auf der Haut und keine Schminke, denn die junge Frau war das, was man eine natürliche Schönheit nennt.
Karina übernahm das Reden, und ich wunderte mich ein zweites Mal, als ich hörte, dass die Bürgermeisterin auch meine Sprache verstand.
Die Frau hörte auf den Namen Svetlana Lanski. Wir erfuhren, dass sie in Moskau studiert hatte und auch schon im Ausland gewesen war. Den Posten hier hatte sie als Übergang bekommen. Im nächsten Jahr würde sie einen Job in Moskau in der Verwaltung antreten. Hier konnte sie sich um die Probleme der Landbevölkerung kümmern. Sie blieben nicht allein auf den Ort Tankow beschränkt. Auch andere Orte in der Umgebung gehörten dazu.
Im Vergleich zum Vorzimmer war dieser Raum richtig gemütlich eingerichtet. Natürlich auch größer, damit es genügend Platz für die Sitzgruppe gab, auf die wir uns setzen konnten.
Man bot uns Tee an, den wir auch nicht ablehnten, und Svetlana schenkte ihn aus einer Warmhaltekanne ein.
Ich saß günstig und konnte durch eines der Fenster schauen. Mein Blick streifte dabei über flaches Land hinweg, und in der Ferne sah ich einige Windräder.
Svetlana Lanski tat mir den Gefallen und sprach Englisch. Gekleidet war sie nicht wie eine offizielle Person. Sie trug Jeans mit Lederfransen, ein helles Hemd aus Wolle und darüber eine braune Lederweste, auf der sich vier Außentaschen verteilten.
In der Ecke stand ein alter Ofen aus Stein. Hinter der Klappe glühte es. Die Wärme, die sich im Raum verteilte, war angenehm, und die junge Bürgermeisterin schlug die Beine locker übereinander. Wir bemerkten die halbhohen Stiefel mit den nicht zu hohen Absätzen, und dann sagte sie lächelnd: »Jetzt bin ich aber gespannt, was mir die Ehre dieses hohen Besuches verschafft.«
»Sag du es, Karina. Du bist die Chefin von uns beiden.«
Sie musste lachen, wurde sehr schnell wieder ernst und kam sofort zur Sache. Was wir erlebt hatten, ließ sie weg. Ein Name war wichtig, und den sprach sie aus.
»Isaac Kromow. Kennen Sie ihn?«
Svetlana überlegte nicht lange. Sie brachte das Kunststück fertig, während des Trinkens den Kopf zu schütteln.
»Das ist schade.«
Die Bürgermeisterin setzte die Tasse ab. »Moment, das war nicht die ganze Antwort. Ich kenne ihn nicht persönlich, aber ich habe schon von ihm gehört.«
»Das ist gut.«
»Warten wir es ab.«
»Aber er hat hier gewohnt?«, fragte ich.
»Klar. Am Ortsrand.«
»Hört sich schon mal gut an.«
Sie musste lachen. »Ich kann euch nicht sagen, ob das gut gewesen ist. Die Menschen hier kamen mit ihm jedenfalls nicht so zurecht.«
»Warum nicht?«
Svetlana zuckte die Achseln. »Er war eben ein Künstler. Ein Einzelgänger. Aber er muss sich auch einen Namen gemacht haben, denn seine Schöpfungen waren gefragt. Es kamen viele Besucher her, um bei ihm etwas zu kaufen. Seine Leistungen hatten sich bis nach Moskau herumgesprochen. So wurde auch Tankow bekannter.«
»Aber jetzt ist er nicht mehr da.«
»Genau so ist es.«
»Wo steckt er denn?«
Svetlana schaute mich an. Ein Blick in ihre Augen reichte mir aus, um zu erkennen, dass sie es auch nicht wusste. »Das ist schon eine seltsame Geschichte«, murmelte sie.
»Inwiefern?«
»Er war plötzlich verschwunden. Von einem Tag auf den anderen. Das heißt, kurz zuvor hat er in den Nächten immer wieder Besucher empfangen. Fremde, die man im Ort zwar registrierte, denen man aber nicht näher kam. Sie hielten sich auch nur in der Nähe des Ateliers auf, und plötzlich waren sie weg, und mit ihnen verschwand auch der Mann, den Sie suchen. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Steht sein Atelier oder sein Haus jetzt leer?«
»Ja, es ist niemand dort eingezogen. Manche Menschen warten darauf, dass er zurückkehrt. Ich selbst glaube es nicht. Er ist einfach schon zu lange weg.«
»Und Sie
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