Arno-Linder 1: Papierkrieg
drehte mir einen Joint und stellte mich vor meine Plattensammlung. Mir war irgendwie nach Charlie Parker. Leider besaß ich von ihm keine Platten, so musste mein CD-Player herhalten. Ich kramte die remasterte ›Charlie and Miles – Historical Sessions‹ raus und legte sie in den Schacht. Dann drückte ich auf Play und dimmte das Licht. Das Klavierintro von ›A Night in Tunesia‹ flutete durch den Raum. Als der sanfte Bläsereinsatz kam, lag ich bereits unter der Decke. Der Joint knisterte, und als ich inhalierte, setzte Charlie zu einer Interlude an. Samtig-weich klagte sein Altosax in einer perfekten Phrase, und als das Zwischenspiel vorüber war, wiederholte die gesamte Band das Thema. Der Wodka und das Koffein rasten durch meine Adern, gejagt vom THC. Der Joint zwischen meinen Fingern wurde bleischwer und mein Herz pumpte wie verrückt. Den durchgeknallten Einstieg zu Charlies Solo mitsamt Drumbreak bekam ich noch vollständig mit, dann driftete ich weg.
Als ich wieder zu mir kam, lief die Platte dank der Repeat-Funktion immer noch. In der Rechten hielt ich den inzwischen ausgegangenen Joint. Charlie war gerade irgendwo im Mittelteil von ›Embraceable You‹, lyrisch schwermütig spielte er sich den Blues vom Herzen.
Unwillkürlich musste ich an Slupetzky denken. Ein Leben, verbracht in verrauchten Hinterzimmern und kahlen Hotels, immer auf Achse, immer auf der Jagd nach dem ultimativen Gewinn. Als er glaubte, endlich das große Los gezogen zu haben, starb er. Alt und allein in einem Loch, irgendwo in Wien gestrandet. Alle Hoffnung verloren.
Ich rauchte den Joint fertig und dachte an die Champagnerglasgöttin, bis mir die Lichter endgültig ausgingen. Charlie spielte ungerührt weiter, bis in alle Ewigkeit.
Kapitel 3
I
Am nächsten Morgen stand ich gegen sieben auf. Charlie spielte immer noch, ich ließ ihm seine Freude, während ich Teewasser aufsetzte, mich wusch und rasierte. Nachdem ich das nicht mehr kochende Wasser über die nach Heu duftenden Senchablätter gegossen und der Tee drei Minuten gezogen hatte, füllte ich ihn in meine ramponierte Siggflasche, packte alles Übrige zusammen und ging frühstücken. Es war ein völlig neuer Morgen, ich hatte Geld.
Vorbei am Café Mostar und hinauf durch den Reithofferpark, wo schon ein paar unverdrossene Migrantenkinder im Käfig dem Ball hinterherjagten, zur Märzstraße. Oben angekommen ging ich schnurstracks ins Kent, suchte mir einen Tisch und nach kurzem Warten kam ein Kellner. Im Kent, in dem in der Märzstraße ebenso wie in dem am Brunnenmarkt, verlässt man Europa und ist in Asien. Minuten werden zu Stunden, Stunden verrinnen in Sekundenschnelle.
Ein Freund von mir, ein starker Raucher, musste einmal eine Stunde auf ein Packerl Marlboro warten, der Ober eilte mit der rotweißen KKK-Schachtel mindestens dreimal an unserem Tisch vorbei. Auf die immer drängender werdenden Fragen antwortete er nur in typisch türkischem Tonfall »Kommt gleich« und ging ungerührt weiter. Nichtsdestotrotz sind die Angestellten sehr freundlich und das Essen ausgezeichnet.
Ich bestellte mir ein türkisches Omelett, mit Weißkäse belegt, der auf der heißen Unterlage seine bröckelige Konsistenz verliert und geschmeidig wird. Das alles in Olivenöl gebadet, dazu einen Korb voll frischem, duftendem und in Scheiben geschnittenem Fladenbrot, ließ mir das Wasser im Mund zusammenrinnen. Dazu trank ich zwei der fingerhutgroßen, picksüßen Apfeltees und hinterher gönnte ich mir noch einen türkischen Kaffee, zu dem im Kent ein Stück Lokum auf Zahnstocher serviert wird. Lokum, diese geleeartige Süßspeise, zäh, zuckrig und klebrig, die im ausgehenden 18. Jahrhundert von einem gewissen Ali Muhiddin, der damals eine Alternative zu den traditionellen türkischen Süßspeisen suchte, erfunden wurde. Die Fama will wissen, dass es Ali Muhiddin ein geschlagenes Jahrzehnt an Forschung kostete, um vom Konzept des Lokums zur ersten essbaren Version zu gelangen. Am ehesten vergleichbar mit Eibisch-Pastillen, nur viel besser. Vor allem, wenn man den Lokum ein wenig im siedend heißen Kaffee ziehen lässt.
Gesättigt verließ ich das Kent und machte mich auf in den Handyshop. Es war an der Zeit, hinter die Geheimnisse kommen, die Slupetzkys iPhone in sich barg.
Der Handyshop sieht aus wie Hunderte andere in Wien auch. Glasschaufenster, hinter denen sich die neuesten Handymodelle der verschiedenen Anbieter befinden. Alles in dem typisch türkischen Sinn für
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