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Arno-Linder 1: Papierkrieg

Arno-Linder 1: Papierkrieg

Titel: Arno-Linder 1: Papierkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mucha
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über die Ablagefläche zu blicken. Wie immer war er adrett gekleidet, seine Garderobe hätte einem Concierge in einem Nobelhotel zur Ehre gereicht. Ich gab ihm die Scheine.
    »Expressaushebung?«
    »Wenn’s geht, wäre schön.«
    »Sicher, kein Problem für Sie, Herr Doktor. In 20 Minuten können Sie die Bücher abholen.« Er reichte mir meinen Sitzplatzschlüssel und ich ging in den großen Lesesaal, der mit seinem biederen Design wie das Interieur eines sowjetkommunistischen Hotels aus den 60ern wirkt. Wenn man sich bemüht, vermeint man fast noch die Echos einer Breschnew-Rede an den Wänden huschen zu hören.
    Die große Fensterfront schaut nach Südosten, was dazu führt, dass im Sommer selbst bei geschlossenen Fenstern Schweiß und Tinte auf dem Papier ineinanderfließen. Im Winter hingegen ist es gerne einmal beißend kalt, sodass den Lernbeflissenen niemals langweilig wird. Heute war der Blick auf den Burggarten trostlos. Grau in Grau in Grau.
    Ich ging nach vorne, holte mir einen Band des deutschen Wörterbuchs der Brüder Grimm heraus und vertiefte mich in eines der größten Monumente menschlichen Geistes, das uns überliefert ist. Nebenbei ist es auch ein Fenster, um in die Zeit blicken zu können, da innerhalb weniger Jahrzehnte eben dieses Wörterbuch, die ›Kritik der reinen Vernunft‹, der ›Faust‹ und Mozarts ›40. Symphonie in G-Moll‹ die Bühne der Weltgeschichte betraten. In angenehmer Gesellschaft vergeht die Zeit schneller, und so waren die 20 Minuten längst verflogen, als ich auf die Uhr blickte.
    Widerwillig kehrte ich in eine Zeit zurück, deren Highlights aus Tiefkühlpizza, Wolf Martin und Starmania bestehen.
    Ich holte mir die Bücher und Zeitschriften ab, die ich bestellt hatte, und setzte mich zurück an mein Pult. Vor mir stapelten sich die Bücher zu einem Berg, dem nur wenig fehlte, um eine Krone aus ewigem Eis zu tragen. Es war Zeit, ein wenig über die Textgeschichte des Werks herauszufinden, dessen XVI. Gesang ich Dittrich verkaufen wollte. Mühsam rekonstruierte ich, in vergilbten Seiten blätternd, die Überlieferungsgeschichte der Batrachomyomachia, indem ich zuerst die Indizes der Jahrgangsendhefte der Zeitschriften auf Schlüsselworte durchforstete, die Stellen heraussuchte und über zig Umwege die relevanten Passagen in den Monografien ausfindig machte.
    Viel zu schnell vergingen die Stunden, es ging auf 12, ich ordnete noch kurz meine Notizen und brachte die Bücher zurück. Um eine Habilitation zu verfassen, fehlte mir noch einiges, aber ich hatte die gröbsten Fakten und wichtigsten Hypothesen zusammengebracht. Ich verabschiedete mich von Erich und zog mich wieder an.
    Draußen war es immer noch unfreundlich und es schien nicht so, als ob sich das Wetter zu meinen Lebzeiten ändern würde. Ich ging durch die Innere Hofburg, unter der grünen Bronzekuppel hindurch, auf den Michaelermarkt hinaus.
    Diese Stelle kann ich nie passieren, ohne mich an ein Vorkommnis aus meinem ersten Studienjahr zu erinnern. Wie heute auch, war ich aus der Nationalbibliothek gekommen, als an jenem wunderschönen, glühendheißen Sommertag ein junger Mann im Mozartkostüm, inklusive Schnallenschuhen, Strümpfen, Spitzenmanschetten und gepuderter Perücke, Plakate einer Kunstveranstaltung austeilte. Damals waren diese Mozarts noch kein gewöhnlicher Alltagsgegenstand des Straßenbilds im ersten Bezirk. Der junge Mann mühte sich also im Schweiße seines Angesichts ab, einen Hungerlohn zu verdienen, als eine alte Dame seiner ansichtig wurde. Zweifellos war sie gerade zum allmittäglichen Konditoreitreffen mit ihren Jahrgängerinnen unterwegs. In adrettes Altrosa gekleidet, mit Brosche und Halstuch, die weißen Haare sorgfältig frisiert, kam sie auf den jungen Mann zu. Einen Meter vor ihm erhob sie Spazierstock und Stimme. Während sie wütend auf den jungen Mann einschlug, der weder wusste was, noch warum es ihm geschah, brüllte sie mit ihrer zarten Damenstimme: »Sie schwule Sau, dass Sie sich nicht schämen, verschwinden Sie zurück in das Loch, aus dem Sie gekrochen sind!«
    Der junge Mann versuchte sich unter den gezielten Hieben schüchtern zu rechtfertigen: »Aber, aber, so hören Sie doch …«
    »Schämen sollten Sie sich, Sie Ferkel, verkaufen Sie doch Ihre Schweinereien woanders!«
    Die aufgebrachte Dame wurde schließlich von Passanten beruhigt und der junge Mann von einem zufällig vorbeikommenden Arzt versorgt. Ob er aber in der Nacht nicht doch an einer Hirnblutung

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