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Arno-Linder 1: Papierkrieg

Arno-Linder 1: Papierkrieg

Titel: Arno-Linder 1: Papierkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mucha
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ich kurz davor war, ein wenig Angst zu bekommen, kam das Leben zurück. Zuerst freute ich mich, dann fühlte ich den Schmerz, und er war gar nicht nett. Aber das ging vorbei, schließlich blieben nur mehr ein paar Ameisen in den Fingern übrig, und auch die verschwanden mit der Zeit.
    Unwillkürlich fiel mir der Fall von dem Mann im Gemeindekotter von Altach ein. Der war eingesperrt worden und die ganze Beamtenschaft hatte sich in den Urlaub verabschiedet. Mehrere Wochen war er ohne Essen und Trinken allein dort unten geblieben. Am Ende hatte er sich von seinem eigenen Kot und Urin ernährt. Überflüssig zu sagen, dass er danach nie mehr ganz der Alte war.
     

V
    Mein Appartement war annähernd quadratisch, etwa zweieinhalb mal zweieinhalb Meter, und bis auf ein Bett, ein Waschbecken und eine Kloschüssel leer. Eine romantisch blinkende Neonlampe an der Decke sorgte für Licht. In der einen Wand befand sich ein Fenster, so in fast drei Metern Höhe. Es klebte unter der Decke wie ein Schwalbennest. Die Scheibe bestand aus dickem Milchglas, sodass unmöglich zu sagen war, was sich dahinter auftat. Die Zelle war weiß gestrichen und mit einem graugrünen Linoleumboden ausgestattet. Die Farbe des Fußbodens war genau auf die Schimmelflecken an Decke und Wand abgestimmt. Es hätte richtig heimelig sein können, wäre es nicht so nass und kalt gewesen.
    Die Zeit verging ausgesprochen langsam. Was eigentlich gar nicht stimmt, denn ich hatte keinen Anhaltspunkt, um überhaupt auf ein Vergehen der Zeit schließen zu dürfen. Soweit es mich betraf, hätte sie auch durchaus still stehen können. Nicht einmal das bisschen Licht, das durch das winzige Fenster unter der Decke eindrang, veränderte sich, obwohl es schon lange Nacht sein musste.
    Ganz so schlimm, wie sich das anhört, war es aber gar nicht für mich. Schopenhauer hat einmal trefflich formuliert, dass die Einsamkeit dem wahrhaft Begabten nur Gelegenheit gibt, um sich an seinen inneren Reichtümern zu weiden. Arm sind die Tröpfe im Purpur der Welt, die so nur die eigene Leere erfahren.
    Da ich mich durchaus in der Gruppe der Begabten sehe, galt es somit, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Also vertrieb ich mir die Zeit mit Zweierlei.
    Zuerst erinnerte ich mich an eine Übung aus dem tantrischen Buddhismus Tibets, bei der ein Adept sich darin zu beweisen hatte, dass er so lang wie möglich eine weiße Wand anstarrte. Es brauchte ein paar Anläufe, bis ich den Dreh raushatte, dann war es aber ganz unterhaltsam.
    Irgendwann ließ meine Konzentration nach, müde aber war ich noch nicht. Von der weißen Wand hatte ich genug, also begann ich damit, die Ilias zu rezitieren. Mit 15 etwa hatte ich in zehn langen Wochen Sommerferien diese mnemotechnische Extraleistung geschafft. Natürlich war ein Mädchen und mit diesem ein gebrochenes Herz für die Kraftanstrengung erforderlich. Nur um die Dimension meines Herzeleides anzudeuten, sei gesagt, dass ich sie damals auf Griechisch lernte, ohne mehr als nur eine Handvoll grammatischer Formen und vielleicht zehn Dutzend Vokabeln zu kennen. Letztendlich hatte ich es aber geschafft. Nun kam mir diese Liebeskur zugute und ich unterhielt mich königlich damit, das Heldenepos herzusagen. Was nicht unwesentlich zu meiner Unterhaltung beitrug, war die Tatsache, dass ich in meiner damaligen Unwissenheit etliche Fehler gelernt hatte, die mir nun sofort ins Auge stachen. Ein paar Stellen verursachten mir Schwierigkeiten, und ich musste länger graben, um sie wiederzufinden, aber alles in allem ging es recht gut.
    Ein paar Stunden später, gemessen an der Zeit, die so eine Rezitation braucht, befand ich mich am Ende des vierten Gesangs. Obwohl es mitten in der Nacht sein musste, brannte das flackernde Neonlicht immer noch nervenzermürbend über mir. Während der Rezitation war ich unablässig in meinem Gefängnis auf und ab marschiert. Jeweils drei Schritte in eine Richtung, da die Diagonale weder durch Klo, Bett noch Waschbecken verstellt war. Ich war nun nach meinem Spaziergang rechtschaffen müde und legte mich aufs Ohr. Zur Ehrenrettung der Wiener Polizei sei gesagt, dass wenigstens die Bettdecke sauber war. Also deckte ich mich zu und schlief ein.
    Irgendwann erwachte ich. Das Licht über mir zuckte noch immer, die Milchglasscheibe verriet noch immer nicht, was für eine Tageszeit gerade herrschte, und ich war durstig. Nachdem ich am Wasserhahn getrunken hatte, ging es mir besser. Kurz wollte ich noch einmal meine Ausreden

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