"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
Restaurantbesuche. Ich werde selbst kochen – jeden Tag.
Ordnung und Struktur gegen das innere Chaos
Was Mütterlein mir einst beschert,
halt ich in diesem Schranke wert.
Soll glatt und fein geordnet sein
wie einst es hielt mein Mütterlein.
So stand das im Kleiderschrank meiner Oma – mit rotem Garn auf weiße Spitze gestickt: vier Zeilen auf vier Regalbrettern. Es gab auch eine alte Tretnähmaschine und einen Küchenschrank, der nach Backpulver roch, und ein Kämmerchen mit einer Blechdose, in der sie die Süßigkeiten versteckte. Jede Tasse und jeder Löffel hatten einen festen Platz, und jeden Morgen nach dem Aufstehen zog Oma die große Tischuhr auf dem Wohnzimmerschrank auf. Wenn sie einen Teller benutzt hatte,
wurde er anschließend sofort abgespült. Im Herbst ging es Pilze sammeln oder Himbeeren pflücken. Und dann wurde eingekocht. Die Marmelade in Gläser gefüllt und da gab es keine Fragen wie »Ach wo hab ich denn noch mal die Gummiringe?«, denn die Gummiringe lagen natürlich in dem Fach für die Gummiringe in der mittleren Schublade. Im Frühjahr zog sie goldglänzende Papphütchen von Blumenzwiebeln – und das ganze Wohnzimmer duftete nach Hyazinthen. Ich war in den Ferien gern bei meiner Oma, obwohl da sonst weiter nichts passierte – außer eine Fahrt mit dem Drehgelenk-Bus zu Spielzeug-Fuhr , ein Laden, in dem sie mir neue Ritter für meine Burg kaufte. Und damit spielte ich dann tagelang im Wohnzimmer oder malte Segelschiffe mit Wasserfarben, und Oma ließ mich in Ruhe spielen. Mittags gab es Brathähnchen und zum Nachtisch Schokoladenpudding.
Meine Oma hat ihr ganzes Leben diszipliniert gelebt. Ohne Plan. Ohne innere Kämpfe gegen sich selbst. Sie hat die Dinge einfach getan, weil das ihr Wesen war. Unerschütterlich. Ich bin in den Wochen nach dem Drogentod meines Bruders regelrecht verwahrlost – aber Omi hat erst noch gespült und das Geschirr in den Schrank gestellt, bevor meine Eltern sie abholten. Nein, das war keine Schockreaktion, das entsprach ihrem Wesen. Niemals hätte sie ungebügelte Wäsche in den Schrank ihrer Mutter gestopft oder vergessen, die alte Tischuhr aufzuziehen. Ihr geregeltes Leben half ihr zu überleben. Sie hatte ihre Strukturen, ihre Ordnung – so felsenfest, dass sie sich daran festhalten konnte, wenn rundherum alles zusammenkrachte. Sie hätte es gar nicht verstanden, wenn man gesagt hätte: »Wie kannst du ans Geschirrspülen
denken, wenn dein Enkel gerade gestorben ist?« Weil das eine mit dem anderen einfach nichts zu tun hat. Der äußere Rahmen ihres Lebens stand unverrückbar.
Oma hatte ihre Strukturen, ihre Ordnung – so felsenfest, dass sie sich daran festhalten konnte, wenn rundherum alles zusammenkrachte. Sie hätte es gar nicht verstanden, wenn man gesagt hätte: »Wie kannst du ans Geschirrspülen denken, wenn dein Enkel gerade gestorben ist?« Weil das eine mit dem anderen einfach nichts zu tun hat. Der äußere Rahmen ihres Lebens stand unverrückbar.
Schlichte Weisheiten
Wenn meine Großmutter etwas im Überfluss hatte, dann war es Herzenswärme. Noch als 30-Jähriger habe ich mich nach Liebesdramen bei ihr ausgeheult. Sie hat sicher nicht mal ansatzweise begriffen, was ich da trieb, aber sie war trotzdem eine grandiose Zuhörerin. Sie urteilte nicht, sondern nahm Anteil. Sie war ungebildet, aber herzensweise. Und am Ende sagte sie »Ach …«, hob hilflos die Arme und schenkte mir zum Abschied eine Tafel Schokolade und einen Spruch aus ihrem unendlich großen Füllhorn schlichter Weisheiten: »In der Mitte der Nacht beginnt schon der nächste Tag« oder »Auf der anderen Seite des Zauns ist das Gras grüner.« Jedes Mal gab es dieselbe Schokolade: Für mich Ritter Sport Nougat – für meinen Bruder Marzipan, unsere Lieblingssorten. Mit Mitte 20 gestand mir mein Bruder lächelnd, er könne Marzipan längst nicht mehr ausstehen. »Warum sagst du Omi das nicht?«, fragte ich ihn. »Bist du verrückt?!«,
entgegnete mein Bruder, »dann hört sie ja damit auf!« Das kann ich gut verstehen. Es ist eine der emotionalsten Erinnerungen meines Lebens – diese Tafel Ritter Sport Nougat. Jedes Mal, wenn ich diese Schokolade esse, wird mir bewusst, wie sehr ich Omi und ihr Kämmerchen mit den Süßigkeiten vermisse.
Lebenssatt, wie der Pfarrer sagte, schloss sie mit 92 für immer die Augen. Volksschule – Erster Weltkrieg – Heirat – Kinderkriegen – Zweiter Weltkrieg, zweimal ausgebombt, Mann tot, ältester Sohn tot, Schwestern tot,
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