"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
Enkel tot – der Rest des Lebens Witwe. Kann man von so einem trübsinnigen Leben satt werden? »Der Herrgott gibt’s – der Herrgott nimmt’s.« Sie hat das Leben hingenommen – nicht gestaltet. Sie hat sich nicht verwirklicht. Und trotzdem war sie kein bisschen bitter. Schwermütig oft, aber nicht bitter. Sie war der gute Geist unserer Familie. Sie war immer da und hatte für jeden ein offenes Ohr und hat nie ein böses Wort gesagt und heldenhaft die Spuren misslungener Chemieexperimente vor dem Eintreffen der Eltern beseitigt. Niemals zuvor oder danach habe ich so viele nahe und ferne alte und junge Angehörige gesehen wie bei ihrer Beerdigung. Sie hatte in viele Leben ein Stück Wärme und Güte gebracht. Sie selbst hätte ihr Leben sicherlich als erfüllt betrachtet. Vielleicht erfüllter, als mir meines je erscheinen wird. Weil ich nie zufrieden bin mit dem, was ich gerade habe, und ich immer mehr und immer noch etwas anderes will. Weil ich mich vor lauter Möglichkeiten nicht entscheiden kann … Ach – die vielen, vielen Möglichkeiten, die sind also schuld? Es ist doch mein Problem, wenn ich nicht weiß, was ich will! Aber wenn ich zumindest eines von Oma lernen kann,
dann ist es das, dass man nicht permanent alles hinterfragen oder einen übergeordneten Sinn suchen muss, sondern dass es schon eine ganze Menge ist, wenn man sein Leben im Griff hat und nach getanem Tagwerk zufrieden und rechtschaffen müde ins Bett geht.
Muskeln und Shakespeare
Ich habe Theaterkarten bestellt. Für mich ganz allein! Shakespeare. Ein Wochenende in Stratford upon Avon, dem Geburtsort des größten Dichters aller Zeiten. Ein Hotel habe ich auch gebucht. Wenn ich da jetzt nicht hinfahre, ist eine Menge Kohle weg. So viel Aufwand, um ins Theater zu gehen – das macht mich jetzt schon schlecht gelaunt. Ich hab’s ja sonst nicht so mit der Kultur. Es war mir stets ein Rätsel, worin das Vergnügen liegen soll, eine Stunde in der proppenvollen U-Bahn zu verbringen, um sich zwei Stunden auf unbequemen Stühlen in nicht minder überfüllten stickigen Sälen zu quälen – wenn man es sich doch genauso gut mit einem netten Video, einem guten Wein und paar Leckereien auf dem Sofa gemütlich machen könnte. Ich weiß nicht, ob das ein Geschlechterproblem ist, aber ich erlebe diesen Konflikt in vielen Beziehungen: Die Männer hängen am liebsten zu Hause ab und die Frauen nervt das. Was dann wiederum die Männer nervt. Deshalb gehst du dann irgendwann doch mit! Ins Theater oder in die Oper, in ein Konzert. Ihr zuliebe! Um ihr eine Freude zu machen! Nach zwei Stunden singen sie immer noch, und du musst auf’s Klo und hast Durst auf ein Bier und fängst an, Groll zu schieben. Den du aber nicht zeigen darfst, weil du deiner Liebsten ja nicht den Abend verderben willst. Aber sie merkt es
natürlich doch, weil du nervös auf deinem Stuhl rumrutschst und genervt stöhnst. Und du bist kaum raus aus dem Konzert und schon mittendrin im Grundsätzlichen. Sie sagt, dass du besser zu Hause geblieben wärest, statt ihr den Abend zu verderben. »Da hätten wir beide mehr davon gehabt!«
Und dann lese ich bei dem Literaturwissenschaftler und Autor Dietrich Schwanitz über Shakespeare, er gebe einem das Gefühl, Gott am ersten Schöpfungstag zuzuschauen, den Urknall als einen poetischen Orgasmus der Kreativität zu erleben: »Es gibt kein besseres Gefühl auf der Erde als dieses. Es befreit aus Depression und schlechter Laune und macht dankbar dafür, dass man lebt.« Meine Güte, das ist mächtig dick aufgetragen. Gibt es tatsächlich Menschen, die so empfinden können bei einem Theaterstück, einem Konzert? Alle Achtung! Ich kann das kaum glauben. Aber ich will gerne versuchen, mich berühren zu lassen.
Schwanitz’ Bildung ist so etwas wie meine Bibel bei der Vorbereitung der Kulturoffensive. »Alles, was man wissen muss« verspricht der Untertitel. Ein unerträglich selbstgefälliger 800-Seiten-Wälzer eines Menschen, der unglaublich viel weiß und damit seine Leser gern klein macht. Eine Tour de raison durch das Bildungsbürgertum: Geschichte – Literatur – Theater – Politik – Landeskunde – klassische Mythen etc. Warum Shakespeare der Größte ist und dass sogar Goethe bei ihm geklaut hat, der wiederum mit dem Faust ein menschliches Universum erschaffen hat.
Ich schreibe fast 50 Buchtitel aus Schwanitz’ Abhandlung über die europäische Literatur heraus. Bücher, die
man als gebildeter Mensch gelesen haben »muss«. Von
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