Artefakt
aus der silbernen Nadel. »Wir haben überlebt, Rahil Tennerit.«
Rahil hatte zum zweiten Mal Gelegenheit, sich zu freuen. »Das haben wir, ja. Und mit diesem Interpreter können wir uns verständigen.«
Noch während er diese Worte sprach, umgeben vom Chaos des Flüchtlingslagers und unter einem grauen Himmel, aus dem kalte Regentropfen fielen, dachte er: Wie haben wir überlebt? Wie können wir überhaupt überlebt haben?
Wie schnell war der Shuttle in den oberen Luftschichten des Planeten gewesen? Zwanzigfache Schallgeschwindigkeit? Vielleicht noch etwas mehr. Kein Schirmfeld hatte das alte, aufgebrochene Raumfahrzeug geschützt. Die Reibungshitze und eigene kinetische Energie hätten es in Stücke reißen müssen, mit allem, was sich in seinem Innern befand.
Und doch stehen wir hier, ging es Rahil durch den Kopf. Einigermaßen gesund und munter. Und unverletzt, bis auf meinen Vater, der sich offenbar den rechten Arm gebrochen hat. Er sah an sich herab, betastete erst die Brust und dann die Beine, wie auf der Suche nach Verletzungen, die bisher seiner Aufmerksamkeit entgangen waren.
»Hier stimmt was nicht«, sagte er leise, und der Wind stahl ihm die Worte von den Lippen.
Sammaccan blickte über die vielen Flüchtlinge hinweg zur Stadt Nabbuk und den sechs Staubschiffen. »Dies ist meine Welt«, übersetzte der Interpreter seine Worte. »Aber sie verändert sich. Sie hat sich bereits verändert. Wie mag es in Munraha aussehen?«
»Bruch-Gemeinschaft und Ägide evakuieren den Planeten«, sagte Rahil, von den eigenen bohrenden Gedanken abgelenkt. Ein weiterer Regentropfen traf ihn über den Augen, und es fühlte sich nach einem Finger an, der ihm an die Stirn klopfte. »Die Volontäre dieses Lagers wollen uns nach Jadoo mitnehmen, aber unsere Reise geht nach Norden, zum Artefakt …«
Er sah zum Zug, aus dessen Waggons noch immer Flüchtlinge kletterten. Die schnaufende Lokomotive stand am Ende der Gleise, an einer runden Plattform, die sich offenbar drehen ließ. »Wir hätten ein Transportmittel, aber uns fehlt ein Lokomotivführer.«
»Ha!«, machte Sammaccan und ließ seine Brust voller Stolz anschwellen. »Unsere Maschinen mögen nicht so hochentwickelt sein wie die der Ägide, Rahil Tennerit, aber wir sind nicht ihre Diener, sondern ihre Herren. Ich weiß, wie man mit einer Lokomotive umgeht. Ich habe es als Sohn der Ersten Mutter gelernt, auch in der Hoffnung, eines Tages mit einem Zug unsere Kämpfer in den Kampf zu führen.«
Rahil klopfte ihm auf die Schulter. »Wie wär’s, wenn du dich zunächst mit nur einem Passagier begnügst?«
33
Es regnete in Strömen, und böiger Wind trieb dunkle Wolken über den Himmel. In der Stadt und im Flüchtlingslager brannten erste Lampen, obwohl es noch eine Stunde dauerte, bis die Sonne unterging.
»Wohin wollen Sie?«, fragte Lonora, als Rahil und Sammaccan Anstalten machten, das Hospital zu verlassen. Rahil hatte sich Kleidung aus heraklonischen Textilien besorgt: eine dunkle Hose, die ihm etwas zu groß war, darüber ein Hemd aus weichem Stoff und eine Kapuzenjacke, die dem Regen hoffentlich lange genug standhielt. Sammaccan trug einen Beutel, der etwas Proviant enthielt, gerade genug für ein oder zwei Tage; mehr hatte er in aller Eile nicht gefunden.
»Wir vertreten uns ein wenig die Beine«, erwiderte Rahil und versuchte nicht, die Lüge zu verschleiern. Er wollte so schnell wie möglich los, bevor sein Vater merkte, was sie beabsichtigten.
Die junge Volontärin richtete einen gleichzeitig missbilligenden und argwöhnischen Blick auf ihn. »Der Regen macht alles schwieriger«, sagte sie. »Wir haben eben erfahren, dass die Balancierer der sechs Staubschiffe noch an der Arbeit sind. Das Gewicht der Schiffe muss neu tariert werden, was bedeutet, dass sich die Abreise verzögert.«
»Dann haben wir ja noch etwas mehr Zeit.« Rahil zog die Plane im Eingang beiseite. Der Wind wehte Regen herein.
»Wir wissen nicht genau, wann der Sturm kommt«, fügte Lonora schnell hinzu. »Wir empfangen nichts mehr von den Satelliten. Felton und die anderen vermuten, dass die Segler sie zerstört oder assimiliert haben. Und es gibt keinen Kontakt mehr mit Jadoo.« Sie sprach so, als hielte sie Rahil für den Verantwortlichen.
»Wir sehen uns später«, sagte Rahil, der sich nicht aufhalten lassen wollte. Sammaccan stand mit gesenktem Kopf da – die Nähe einer Frau rief tief in ihm verankerte Verhaltensmuster wach –, und Rahil ergriff ihn am Arm und zog ihn
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