Artefakt
nach draußen.
Regen prasselte auf sie herab, und es war noch kälter geworden. Als sie durch Schlamm und tiefe Pfützen in Richtung Gleise stapften, fragte sich Rahil, ob es auch früher geschehen war, dass ein Tiefdruckgebiet die Temperaturen in den tropischen oder subtropischen Breiten von Heraklon so weit sinken ließ. Oder lag es daran, dass das Artefakt im hohen Norden nicht nur die Substanz des Planeten fraß, sondern auch immer mehr Wärmeenergie aufnahm?
»Wenn du jedes Mal erstarrst, sobald du eine Frau siehst, steht es schlecht um euren Freiheitskampf«, sagte Rahil und wich einer Flüchtlingsgruppe aus, die mit einem schwer beladenen Karren durch den Schlamm unterwegs war. Das Krummhorn vor dem knarrenden Wagen schnaufte und schnaubte, und rechts und links von ihm zogen mehrere Männer an Seilen und Riemen.
»Wir tragen auch Fesseln in unserem Innern«, übersetzte die silberne Spange an Rahils Kragen Sammaccans Zischen. »Sie zu lösen ist besonders schwer.«
Vielleicht haben wir alle Fesseln im Kopf, dachte Rahil, während sie durch den Regen gingen und versuchten, im Windschatten der Zelte und Hütten zu bleiben. Welche trage ich? Wer hat sie meinem Geist angelegt?
Er sah sich mehrmals um, aber in den grauen Vorhängen des Regens und dem Gewirr der Flüchtlinge fiel ihm niemand auf, der Ähnlichkeit mit seinem Vater hatte.
Je mehr sie sich den Trassen weiter oben am Hang näherten, desto weniger Flüchtlinge waren zwischen den Behausungen des Lagers unterwegs. Der Zug auf dem ersten Gleis stand still, die Schiebetüren der Waggons geöffnet. Die Lokomotive schien zu schlafen: Es kam nur noch wenig Dampf aus ihrem Schornstein, und sie schnaufte leiser als zuvor das Krummhorn vor dem Karren.
»Hilf mir«, sagte Sammaccan, trat zwischen Lokomotive und ersten Waggon und hantierte an Stangen und Schläuchen.
Und so wurde Rahil zum Assistenten seines Assistenten. Er nahm einen der großen Schraubenschlüssel entgegen, die Sammaccan aus einem Fach unter dem Waggon zog, und stellte sich eher ungeschickt an, als er versuchte, Schraubverbindungen zu lösen.
Der Polymorphe deutete auf die eingefetteten Stangen und dicken Schläuche. »Mach alles los, Rahil Tennerit«, sagte er. »Ich sorge inzwischen für die Befeuerung.«
»Für was?«
»Feuer, Rahil Tennerit«, sagte Sammaccan und rollte mit den Augen. »In der Lokomotive muss ein Feuer brennen, damit wir fahren können.«
Rahil machte sich an den Stangen und Schläuchen zu schaffen, drehte lächerlich primitive Schrauben und versuchte, sich daran zu erinnern, wie Lokomotiven funktionierten. Etwa zehn Minuten später hatte er die letzte Verbindung gelöst, legte den Schraubenschlüssel ins Fach unterm ersten Waggon zurück und ging dicht am Gleis entlang nach vorn. Kurz darauf fand er eine Leiter an der Seite der Lok, die für die lächerlich dünnen Schienen viel zu groß und schwer wirkte. Rahil fragte sich, wie so ein Ding fahren konnte – ein rein mechanisches Etwas –, ohne dass es dauernd zu Unfällen kam.
Wind pfiff am Zug entlang und versuchte, ihm die Kapuze vom Kopf zu reißen, als er nach oben kletterte.
Hitze erwartete ihn.
Sie kam aus einer großen offenen Klappe, durch die Sammaccan eine Schaufel Kohle nach der anderen schüttete. Flammen loderten im Ofen der Lokomotive. Noch einige Schaufeln mehr, dann schloss Sammaccan die Klappe und deutete auf ein Durcheinander aus Hebeln und analogen Anzeigeinstrumenten, die meisten in Form von runden Skalen, auf denen lange schwarze Zeiger zitterten. Hatte Rahil eben noch geglaubt, dass es nicht so schwer sein konnte, eine primitive Dampfmaschine zu bedienen, die den Motor der Lokomotive darstellte, sah er sich plötzlich von so viel Primitivität überfordert.
Sammaccan deutete auf ein Instrument. »Achte auf diese Anzeige, Rahil Tennerit«, sagte er und schien sich in der Rolle des Instruktors zu gefallen. »Wenn der Zeiger diese Stelle hier erreicht, ziehst du den Hebel da eine Kerbe nach unten. Nur eine, hast du gehört?«
»Was passiert dann?«, fragte Rahil. Und als Sammaccan Anstalten machte, auf der anderen Seite der Lok auszusteigen, fügte er besorgt hinzu: »Wohin willst du?«
»Wenn du den Hebel ziehst, fährt die Lok los, aber erst muss der Kessel genug Druck haben«, antwortete der Polymorphe. »Ich gehe zur Drehscheibe und bereite dort alles vor. Wir müssen die Lok drehen, Rahil Tennerit. Oder willst du den ganzen weiten Weg nach Munraha rückwärts fahren?«
Rahil
Weitere Kostenlose Bücher