Artefakt
jetzt auf einem anderen Gleis in Richtung der Waggons, die sie Stun den zuvor gezogen hatte. Die Gestalten am Hang verschwanden hinter ihnen. Wo blieb Sammaccan?
Weitere Sekunden verstrichen, und Rahil überlegte schon, ob er den Hebel in die Ruhestellung zurückschieben sollte, in der Hoffnung, dass die Lok dann langsamer wurde und schließlich anhielt, aber das hätte Lonora und den anderen am Hang Gelegenheit gegeben, ihn zu erreichen.
Es vergingen noch einige Sekunden, und dann kletterte Sammaccan in den Führerstand der Lokomotive. Wie zuvor genügte ihm ein kurzes Schütteln, um trocken zu werden, aber Rahil bemerkte mehrere dunkle Flecken an seiner »Kleidung«, die aus Körpermasse bestand. Sofort zog Sammaccan den Fahrthebel zwei weitere Kerben nach unten, öffnete dann die große Klappe des Ofens und begann damit, Kohle und Dung aus dem Tender hineinzuschaufeln.
Die Lokomotive wurde schneller, und ihr rhythmisches Schnaufen kam in kürzeren Abständen.
»Wo hast du gesteckt?«, fragte Rahil. »Ich dachte schon, du wolltest mich allein fahren lassen.«
Sammaccan schaufelte. »Es kamen Leute. Ich habe sie abgelenkt.«
Wie, wollte Rahil fragen, aber dazu kam er nicht, denn aus dem Augenwinkel sah er eine Bewegung, und plötzlich erklang eine vertraute Stimme.
»Ich hoffe, ihr habt noch Platz für einen weiteren Passagier«, sagte Coltan Jaqiello Tennerit und rutschte, auf dem Rücken liegend, über die Kohlen und den getrockneten Dung des Tenders. Sein rechter Arm steckte noch immer in einer Polymerschiene, und in der linken Hand hielt er eine Waffe und richtete sie auf seinen Sohn.
Wer siegt,
Wenn eine Welt,
Die auf Frieden schwor,
Ihren Kampf verlor
Und nun im Sterben liegt?
Nach Norden
34
Die Waffe in Coltans linker Hand war lächerlich primitiv: eine Vorrichtung aus Metall, dazu bestimmt, kleine Treibsätze aufzunehmen, deren Explosion Projektile aus dem Lauf schleuderte. Aber sie konnte verletzen und sogar töten, zumal Rahil keine Rüstung trug.
Der Mann, den Rahil seit sieben oder acht Jahrzehnten tot geglaubt hatte, blieb vor dem Haufen aus Kohle und Dung stehen, die Kleidung schmutzig, Rußflecken im Gesicht. Er lächelte sein altes kühles, herablassendes Lächeln, selbst hier, auf dieser von Chaos heimgesuchten Welt, und obwohl er allein war. Einige Momente vergingen, angefüllt mit zahlreichen Gedanken und Erinnerungen. Rahil begriff instinktiv, dass er sofort handeln musste und keine Situation zulassen durfte, in der sein Vater erneut die Oberhand gewann.
Er braucht mich, dachte er, als er sprang. Er hat mich suchen lassen. Er hat keine Mühen gescheut, mich zu finden. Er glaubt, mich zu benötigen, um das Artefakt unter seine Kontrolle zu bringen. Er wird nicht auf mich schießen.
Coltan schoss.
Vielleicht war es Überraschung, die seinen Finger am Abzug krümmte. Oder er reagierte ebenso instinktiv wie Rahil. Eine kleine Flamme leckte aus der Mündung der Waffe, und das Projektil – so schnell, dass Rahil es selbst mit erweitertem Sinn nicht gesehen hätte – schlug gegen die eiserne Wand über der Kesselklappe und surrte als Querschläger davon.
Mit der einen Hand schlug Rahil seinem Vater die Waffe aus den Fingern – sie fiel zwischen die Kohle- und Dungbrocken des Tenders –, und die andere rammte er ihm, zur Faust geballt, ins Gesicht. Blut spritzte aus Coltans Nase, als er zur Seite fiel und fast aus dem Führerhaus der Lokomotive gerutscht wäre. Sein Kopf ragte aus der offenen Tür und verfehlte einen vorbeistreichenden Laternenpfahl nur um wenige Zentimeter.
Sammaccan stand an den Hebeln, die Augen groß, und Rahil starrte auf seinen Vater hinab, mit einem weiteren Moment der Entscheidung konfrontiert. Ein kräftiger Tritt genügte, um seinen Vater ganz durch die Tür zu stoßen, und inzwischen war die Lokomotive so schnell, dass er beim Sturz auf die Trasse vermutlich tödliche Verletzungen erlitten hätte.
Rahil hob den Fuß.
Sammaccan zischte. »Er ist dein Vater«, klang es aus dem Interpreter an Rahils Kragen.
»Bedauerlicherweise«, knurrte Rahil, und es war eine fremde Stimme, die da aus seinem Mund kam, von einem anderen Rahil tief in ihm.
»Wir haben dasselbe Ziel«, sagte Coltan. Er lag noch immer da und wagte es nicht aufzustehen. Ein weiterer Laternenpfahl huschte vorbei.
»Mag sein, aber wir haben nicht die gleichen Absichten.«
»Wir können uns gegenseitig helfen«, sagte Coltan schnell. »Es ist eine weite Reise, selbst mit der
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