Artefakt
behielt das Instrument im Auge und beobachtete argwöhnisch, wie der zitternde Zeiger über die Markierungen kroch. Als er die Stelle erreichte, auf die Sammaccan gedeutet hatte, schloss er die Hand um den Hebel und zog ihn eine Kerbe nach unten.
Das stählerne Ungetüm erwachte.
Ein Zischen kam von der Lokomotive, so laut, dass es im ganzen Flüchtlingslager zu hören sein musste, dann ein fast zornig klingendes Schnaufen, und sie setzte sich in Bewegung. Plötzlich erinnerte sich Rahil wieder, auch ohne Femtomaschinen, die sein Gedächtnis stimulierten. Das Feuer im Kessel verwandelte Wasser in Dampf für Zylinder, die die Dampfkraft auf Pleuelstangen übertrugen. Diese Stangen wiederum waren über eine Treibkurbel mit einer Achse verbunden. Ein einfaches Prin zip. Wieso brauchte man dafür so viele analoge Instrumente und Hebel?
Ihm fiel plötzlich ein, dass Sammaccan nicht gesagt hatte, wie man anhielt, und wo er anhalten sollte.
Und wie konnte man feststellen, wohin man fuhr? Rahil suchte nach Spiegeln oder irgendeiner Vorrichtung, mit deren Hilfe man sehen konnte, was sich vor der Lokomotive befand, aber solche Sehhilfen existierten offenbar nicht. Er streckte den Kopf durchs Fenster auf der linken Seite und blinzelte im Regen. Weiter vorn zeichnete sich im grauen Zwielicht eine Gestalt ab und winkte, aber was bedeuteten die Gesten?
Unten drehten sich die großen Metallräder der Lokomotive, untereinander durch Stangen verbunden. Dampf zischte zwischen ihnen hervor, und noch viel mehr Dampf kam vorn aus dem Schornstein, in langsamen Schüben, wie der Atem der Lok. Sie schien sich ihre eigene Nebelwand schaffen zu wollen, doch das ließ der Wind nicht zu: Er packte den Dampf und riss ihn mit sich, trug ihn zum Flüchtlingslager.
»Sammaccan!«, rief Rahil in den Regen, der ihm ins Gesicht klatschte. »Wie hält man an?« Nur eine Sekunde später kam er sich ziemlich dumm vor. Selbst wenn der Polymorphe ihn hörte – ohne die Stimme des Interpreters konnte er mit den Worten überhaupt nichts anfangen.
Rahil bewegte sich und stieß dabei gegen einen Hebel. Ein Pfeifen erklang, noch viel lauter als zuvor das Zischen der erwachenden Lokomotive, laut genug, um vielleicht sogar in der Stadt Nabbuk gehört zu werden.
Auf der anderen Seite kletterte jemand an Bord. Sammaccan schüttelte sich einmal, und die Regennässe fiel von ihm ab. »Anhalten!«, zischte er. »Ich habe es dir doch zugerufen, Rahil Tennerit.«
Er bewegte die Hebel, als hätte er sein ganzes Leben nichts anderes getan, und schnaufend wurde die Lokomotive langsamer.
»Das Pfeifen«, fügte er hinzu. »Alle haben es gehört. Auch dein Vater.« Er klopfte ans Glas eines Instruments, und der schwarze Zeiger darunter machte einen kleinen Sprung zur nächsten Skalenmarkierung. »Ich drehe die Scheibe. Wenn sie ruht, Rahil Tennerit … Dann zieh erneut diesen Hebel hier, wieder um eine Kerbe nach unten, ja?«
»In Ordnung.«
Sammaccan verschwand einmal mehr im Regen, und einige Sekunden lang lauschte Rahil dem Prasseln der Tropfen und dem leiser gewordenen Schnaufen der Lok. Es war noch dunkler geworden. Dichte schwarze Wolken zogen über den Himmel, schluckten das Licht der Sonne und kündigten den Wirbelsturm an, den Rahil während des Absturzes gesehen hatte. Wie haben wir überlebt?, dachte er, sah aus dem Fenster und beobachtete, wie sich die große Scheibe, auf der die Lok stand, langsam drehte. Ein Motor brummte irgendwo hinter den Regenvorhängen. Können die Schirmfelder der Sitze ausgereicht haben?
Er erinnerte sich vage daran, dass er fast erstickt wäre. Die letzte Phase des Absturzes, das endgültige Auseinanderbrechen des Shuttles, das Verglühen seiner Trümmer in der dichter gewordenen Atmosphäre, der Tod der Gardisten, die Coltan mitgenommen hatte – das alles fehlte in seinem Gedächtnis.
Weiter unten am Hang bewegten sich einige Gestalten. Mit Taschenlampen und Laternen näherten sie sich dem Zug, unter ihnen eine junge Frau mit rotbraunem Haar, das nass an ihrem Kopf klebte. Was würden Lonora, die anderen Volontäre und die Flüchtlinge davon halten, dass er sich anschickte, eine Lokomotive zu stehlen?
Die Drehscheibe bewegte sich nicht mehr. Rahil zog den Hebel, wieder nur bis zur ersten Markierungskerbe, und die große Lok schnaubte wie ein lebendiges Wesen. Sie atmete grauweißen Dampf, den der Wind über den Hang wehte, und die Gestalten verschwanden kurz darin.
Die Lokomotive wurde schneller und schnaufte, fuhr
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