Artefakt
Munraha. Es ist ein Umweg.«
Aber es ist ein Umweg, der sich lohnen könnte. »Lass uns dorthin fahren, Sammaccan«, sagte Rahil mühsam. Die Lider sanken; er konnte sie nicht oben halten. »Nach Lautaret.«
Er schlief ein.
35
Ein Schaukeln weckte Rahil, und als er die Augen öffnete, sah er Sammaccan, der mehrere Hebel betätigte und dann auf der anderen Seite des Führerhauses aus dem Fenster sah. Coltan saß vor dem geschrumpften Vorrat an Kohlen und Dung im Tender, nahm die Polymerschiene mit den Stimulanzringen ab und bewegte versuchsweise den Arm.
Das Schaukeln wiederholte sich, stärker als vorher. Im Tender gerieten die Kohle- und Dungbrocken in Bewegung und rutschten zur Seite. Coltan stützte sich mit dem gerade von der Schiene befreiten rechten Arm ab und verzog das Gesicht.
»Wasser«, zischte Sammaccan und wandte sich wieder den Instrumenten zu. »Zu viel Wasser. Das Gleisbett ist unterspült.«
Rahil vergewisserte sich, dass er noch immer die Waffe in der Hosentasche hatte, stand auf und blickte auf seiner Seite aus dem Fenster. Der Himmel hing grau und niedrig über einer Landschaft, die sich durch den Regen in der vergangenen Nacht in eine Seenplatte verwandelt hatte. Wie hoch die Sonne stand, ließ sich nicht abschätzen. Rahil beugte sich etwas weiter aus dem Fenster, sah nach vorn und stellte fest, dass die Gleise in einem der neuen Seen verschwanden. Am fernen Horizont zeichneten sich im Dunst die Konturen eines Gebirges ab.
Plötzlich neigte sich die Lokomotive gefährlich weit zur Seite, und Rahil klammerte sich fest.
Sammaccan öffnete die Klappe, griff nach der Schaufel und fütterte erneut die hungrige Feuerbüchse.
»Wir müssen weiter«, sagte Sammaccan, und es klang bemerkenswert ruhig. »Wir müssen weiter, bevor die Trasse instabil wird.«
»Wissen wir, wie tief das Wasser dort vorn ist?«, fragte Rahil.
»Nein, aber wir haben keine Wahl.« Sammaccan deutete nach draußen. »Dies ist das Sumpfland von Hirezi. Zu Fuß kämen wir hier keine hundert Meter weit.«
Ein Zischen kam von der Lok, als wollte sie dem Polymorphen zustimmen, und Sammaccan drosselte ein wenig die Geschwindigkeit. Dann stand er am Fenster, eine Hand am Fahrthebel, beugte sich nach draußen und schaute nach vorn. Rahil fragte sich, ob er die ganze Nacht auf den Beinen gewesen war. Er musste müde sein.
»Ist das alles?«
Rahil drehte sich um. Sein Vater saß noch immer vor den Kohlen des Tenders und sah in den Beutel, den Sammaccan aus dem Flüchtlingslager mitgenommen hatte. Er nahm ein Stück Brot und biss hinein. »Das reicht nicht lange«, sagte er mit offenem Mund.
Rahil trat auf ihn zu und riss ihm den Beutel aus der Hand.
»Willst du deinen Vater verhungern lassen?«, fragte Coltan.
Rahil antwortete nicht und legte den Beutel zu seinem Schemel in der Ecke. Dann ging er, die Knie noch immer weich, zu Sammaccan. Das flache Gesicht des Polymorphen erschien ihm schmaler, die großen Augen trüber. Mitten in der Stirn hatte sich die Haut in farblose Schuppen verwandelt.
»Du musst müde sein«, sagte Rahil. »Wenn es nur darum geht, diesen einen Hebel zu betätigen und Kohle in den Kessel zu schaufeln … Damit komme ich zurecht. Du solltest schlafen.«
»Nicht jetzt, Rahil Tennerit. Es ist zu gefährlich.«
»Wenn die Lokomotive kippt, dann kippt sie. Du kannst sie nicht wieder aufrichten.«
»Es kommt auf die richtige Geschwindigkeit an«, erwiderte Sammaccan. »Wir müssen … ausbalanciert sein.«
Rahil fragte sich noch, was der Polymorphe mit den letzten Worten meinte, als etwas anderes seine Aufmerksamkeit erregte. Durch das Fenster auf Sammaccans Seite des großen Führerhauses sah er in der Ferne eine graue Wolke, dunkler als der Himmel. Sie bewegte sich wie ein Schwarm aus Vögeln oder Insekten.
Sammaccan bemerkte seinen Blick und ließ die Schaufel sinken. »Ich weiß nicht, was das ist, Rahil Tennerit. Ich habe es zum ersten Mal gesehen, als es hell wurde. In jener Richtung liegt Boyenga, die Stadt der Spiegel, die Sonnenlicht in Elektrizität verwandeln.«
»Boyenga?« Coltan kam näher. »Das ist die Hauptstadt von Uhtanien, nicht wahr? Dort gibt es Konsulate und auch eine Niederlassung des Dutzends.«
Rahil beobachtete die graue Wolke und fragte sich, wie viele Helfer sein Vater auf Heraklon gehabt hatte und wie viele von ihnen übrig waren. Vor siebenundachtzig Jahren war ein Schiff des Dutzends gekommen und hatte den arktischen Regionen einen Besuch abgestattet. So weit
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