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Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brandhorst
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hier.«
    Rahil holte die Waffe hervor, die er seinem Vater abgenommen hatte, und entsicherte sie. Sammaccan betrat die Höhle, lautlos wie ein Schatten, und Rahil versuchte, ebenso leise zu sein wie er, trotz der weichen, zitternden Knie, die sich anfühlten, als könnten sie sein Gewicht kaum mehr tragen.
    Dutzende von kleinen Laternen leuchteten in der Höhle vor ihnen, die meisten hinter bunten Schirmen, die ihr Licht dämpften und den Felswänden blaue und rote Färbungen verliehen. Teppiche lagen auf dem Boden, auf der linken Seite mit klaren, geometrischen Mustern, die sich wie fraktale Strukturen wiederholten, auf der rechten mit wirren Linien und Schnörkeln. Vernunft und Intuition, sagte eine Erinnerung in Rahil. Ratio und Instinkt. Dort, wo sich die Teppiche in der Mitte der Höhle trafen, stand eine Waage aus goldgelb glänzendem Messing, in beiden Schalen gleich große Haufen aus zermahlenem Rosenquarz. Sie war das Symbol des Verwahrers und bedeutete: abwägen, beide Seiten wiegen, das Für und Wider, Intellekt und Gefühl. Der Verwahrer war Richter und Vermittler, eine lebende Institution, an die man sich wenden konnte, wenn Konflikte geschlichtet werden mussten und wenn es schwierige Entscheidungen zu treffen galt.
    Und er war noch mehr: ein Pfandleiher für gute Absichten und Versprechen. Die Bewohner von Lautaret – und nicht nur sie, auch Besucher aus anderen Städten, Nationen und Staaten von Heraklon – kamen hierher und gaben Depositen in Verwahrung, Dinge, die ihnen wichtig waren, manchmal als Bezahlung für einen guten Rat, manchmal nur, um zu wissen, dass sich die Objekte, mit denen sie gekommen waren, in der Obhut des Verwahrers befanden, was ihnen zusätzliche Bedeutung gab. Dort lagen sie in Regalen, Nischen und Alkoven: kleine Statuen, aus Holz wie Mahagoni geschnitzt, selbst geschaffene Bildnisse geliebter Personen; obsidianschwarze Steine mit eingeritzten Symbolen; andere Objekte, wie von einem Kind gesammelt und wahllos nebeneinander gelegt, doch jedes einzelne von ihnen von besonderer, persönlicher Bedeutung, wie auch die Zettel und Briefe in Gläsern, kleinen roten Näpfen und kristallenen Schatullen, mit Worten, die der Verwahrer hüten sollte, damit sie nicht in Vergessenheit gerieten. Ein ge eigneter Ort, um seine Erinnerungen zu hinterlassen, sicher aufbewahrt, dachte Rahil.
    Sammaccan huschte über den Teppich mit den geometrischen Zeichen und näherte sich einer dunklen Öffnung in der gegenüberliegenden Wand. Rahil folgte ihm mit der Waffe in der Hand und achtete darauf, nicht gegen eine der vielen Laternen zu stoßen, die auch auf dem Boden und kleinen Sockeln standen.
    Coltan schloss mit einem Ächzen zu ihnen auf – die höhere Schwerkraft schien auch ihm zuzusetzen –, und Rahil bedeutete ihm, leise zu sein.
    Stimmen kamen aus der dunklen Tunnelöffnung.
    »Die Fremden, die ich gerochen habe …«, hauchte Sammaccan. »Sie sind bei Äguizabel.«
    Lebt er noch?, wollte Rahil fragen, aber der Polymorphe hatte sich schon wieder in Bewegung gesetzt und schlich durch den halbdunklen Tunnel, der nach einigen Schritten recht steil in die Tiefe führte. Unten wurde es heller, und als sie sich dem Licht näherten, das durch einen Vorhang filterte, hörte Rahil jemanden auf Stellar sagen: »Wir wissen, dass du die Aufzeichnungen hast. Sag uns einfach, wo sie sind, dann hört dies sofort auf.«
    Eine krächzende Stimme erklang, und Rahil drückte erschrocken die freie Hand auf die silberne Nadel an seinem Kragen, als der Interpreter zu übersetzen begann.
    »Ich bin der Verwahrer«, ertönte es auf Stellar, und Rahil begriff, dass er einen anderen Übersetzungsapparat hörte. »Ich verwahre; das ist meine Aufgabe.«
    Etwas knisterte leise, wie von statischer Elektrizität, und es folgte ein Stöhnen und Keuchen.
    »Wo sind die Aufzeichnungen?«, fragte der Mann, der zuvor gesprochen hatte.
    Hinter Rahil räusperte sich Coltan, laut und deutlich. »Mein Junge …«
    Rahil drehte den Kopf, und die Faust seines Vaters traf ihn am Unterkiefer.
    42
    Als Rahil die Augen wieder öffnete, befand er sich in der Höhle auf der anderen Seite des Vorhangs und hatte den Rücken an die raue Wand gelehnt. Sammaccan saß einige Meter entfernt: die Beine angezogen, den Oberkörper vorgebeugt, die Hände auf dem Kopf.
    »Erschieß ihn, wenn er auch nur versucht, die Gestalt zu verändern«, sagte Coltan Jaqiello.
    Die neben Sammaccan stehende Frau – das schwarze Haar kurz, mit großen braunen

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