Artefakt
Äguizabel.«
Die trüben, blinden Augen des Verwahrers bewegten sich, als könnten sie noch sehen. Gleichzeitig gab der Vogelmann klickende Geräusche von sich, deren Echos er mit den großen Ohren empfing. »Du trägst keine Narben.«
»Narben?«
»Du hast keine Narben im Gesicht.«
»Bitte geben Sie mir, was Sie für mich verwahrt haben, Äguizabel«, sagte Rahil und wusste nicht, was der alte Vogelmann meinte.
»Es ist nicht deine freie Entscheidung, Rahil Tennerit. Jene, die mich verletzt haben … Sie zwingen dich.«
»Es sind meine Erinnerungen«, sagte Rahil etwas fester. »Ich will sie zurück.«
»Nun gut.«
Rahil stützte Äguizabel, als der Verwahrer um den Schreibtisch wankte und mit langsamen, unsicheren Schritten zu den Regalen ging, die der Mann eben gerade durchsucht hatte. Die beiden anderen Männer kehrten aus den Tunnelöffnungen zurück, sahen zu Coltan und schüttelten den Kopf.
Mit einer zitternden, feingliedrigen Hand strich Äguizabel über ein Regal und gab dabei leise, zirpende Geräusche von sich. Schließlich fanden seine Finger ganz am Ende des mittleren Regals ein Objekt, das wie ein Stück halb versteinerte Baumrinde aussah. Er griff danach und reichte es Rahil.
Der Mann, der eben noch in den Regalen gesucht hatte, riss dem Verwahrer das Objekt aus der Hand. »Sire …«, begann er.
Coltan war mit einigen schnellen Schritten zur Stelle und betrachtete den Gegenstand. »Ein Biomorph, nicht wahr? Ich habe davon gehört.«
»Dann weißt du auch, dass sonst niemand etwas damit anfangen kann, Vater.« Rahil streckte die Hand aus.
»Sire?«, fragte der Mann.
»Gib ihm das Ding. Es ist auf seine Gene codiert. Auf das, was die Ägide › Biosignatur ‹ nennt.«
»Auf meine ribosomale RNA, um ganz genau zu sein. Und die RNA-Polymerase nicht zu vergessen. Das sind die beiden Codegrundlagen für eine Polynukleotid-Identifikation. Nur ich kann die in diesem Biomorph abgelegten Erinnerungen empfangen.«
Nein, das stimmt nicht ganz, dachte er, und dieser Gedanke stand mit den anderen in Zusammenhang, die ihm zuvor durch den Kopf gegangen waren, wirr und konfus. Rahil Tennerit kann die Erinnerungen aufnehmen. Der andere Rahil, der im Konsulat der Ägide gestorben war … Er hatte es ebenfalls auf die in den Zellstrukturen des Biomorphs gespeicherten Erinnerungen abgesehen gehabt.
Der Mann gab ihm das Objekt, das wie ein Stück Baumrinde aussah, und in Rahils Hand veränderte es sich. Es wurde weicher, zu einem graubraunen Gewebeklumpen. Lange, dünne Sinushaare bildeten sich und zitterten, wo sie Rahils Hand be rührten. Ein leichtes Prickeln wies darauf hin, dass der Biomorph Hautzellen analysierte und einen kompatiblen genetischen Code entdeckte.
»Nur zu, Junge«, sagte Coltan. »Er wird an den Nacken gesetzt, nicht wahr? Oder an die Schläfe.«
Rahil richtete einen forschenden Blick auf seinen Vater. Coltan Jaqiello hatte keine lange Ausbildung in der Ägide hinter sich, auch keinen Aufenthalt in den virtuellen Welten der Bruch- Gemeinschaft, die dem Bewusstsein des Aura-Reisenden Wissen in kurzer Zeit vermittelten. Aber er wusste, was es mit einem Biomorph auf sich hatte.
Er hielt ihn in der Hand, den wärmer werdenden Gewebeklumpen, schwer von Erinnerungen an ein anderes Leben.
»Setz ihn auf, Junge!«, sagte Coltan, und diesmal erklang deutliche Ungeduld in seiner scharfen Stimme. »Wir haben schon genug Zeit verloren.«
Sammaccan zischte, und erstaunlicherweise wandte sich die Frau mit dem kurzen schwarzen Haar, Delana, von dem Polymorphen ab. Rahil fühlte ihren Blick, ruhig und kalt, und ein dumpfer Schmerz entstand hinter seiner Stirn.
Ein Heulen kam von draußen, mal leiser und mal lauter, wie von einer Sirene. Der Mann in Uniform fluchte.
»Man hat die Leichen im Konsulat entdeckt, Sire.«
Sire, dachte Rahil. Ein Missionar der Ägide, der den Patron der Tennerits vom Dutzend mit »Sire« anspricht. Offenbar hatte sein Vater in den vergangenen Jahrzehnten ein weites Netz gesponnen.
Coltan gab Delana ein Zeichen, ergriff seinen Sohn am Arm und zog ihn mit sich. Der Verwahrer Äguizabel blieb am Tisch zurück: alt, blind und schwach, auf dem haarlosen Kopf einen Stimulator, der sich nur operativ entfernen ließ.
Das Heulen wurde schriller, als Coltan, Rahil und die anderen auf den Felsvorsprung traten, neben dem das Flugboot wartete. Es stammte nicht von einer Sirene, sondern von zahlreichen Vogelmenschen, die über den Nestern der Stadt flogen und den Alarmruf
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