Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brandhorst
Vom Netzwerk:
fand er, voller Bedeutung.
    Coltan wich zurück, wie auch Joyce und Sammaccan. Dadurch entging er zwar den Glassplittern, nicht aber Jazmine, die plötzlich vor ihm stand, wie von den Splittern der zerbrochenen Spiegel zu ihm getragen.
    Sie schrie noch immer, und Rahil erinnerte sich an diese Schreie. Es war der Wahnsinn, der da schrie, gewachsen aus Zorn, Verzweiflung und siebenundachtzig Jahren Einsamkeit. Zuvor war Rahil geflohen, weil er sich davor gefürchtet und bedroht gefühlt hatte. Jetzt beobachtete er nur, erfüllt von einer Ruhe, die ihm das Gefühl vermittelte, von den Geschehnissen unberührt zu sein.
    Er wusste, was passieren würde. Rahil sah es, bevor es geschah: die sich hebenden Hände, die Finger gekrümmt, lange Fingernägel, die sich in Coltans Gesicht bohrten und blutige Striemen darin hinterließen, ihm dabei die Brille mit den Wahrnehmungsfiltern von den Augen rissen. Coltan gab Jazmine einen Stoß, der sie zurücktaumeln ließ, und bückte sich, um die Brille aufzuheben.
    Rahil trat zu ihm.
    »Keinen Schritt näher, Junge.« Mit der einen Hand richtete sein Vater den Controller auf ihn, und mit der anderen griff er nach der Brille und setzte sie rasch wieder auf. »Bleib stehen. Zwing mich nicht, hiervon Gebrauch zu machen. Joyce, halt die Irre von mir fern.«
    Jazmine versuchte gar nicht, noch einmal anzugreifen. Ihr Zorn war verraucht, und jetzt stand sie stumm da und weinte lautlos. Tränen strömten ihr über die Wangen und fielen auf die Splitter der Spiegel.
    Mit seinen inneren Ohren hörte Rahil die Stimmen im Flüstersaal, wie Jazmine den Raum mit den Programmbibliotheken genannt hatte. Sie riefen ihn, aber nicht zu sich, nicht in den Raum mit dem Gespinst aus Fäden, die Sammlungen von Algorithmen und Basisprogrammen repräsentierten, sondern in den großen Flur mit den leeren Bildern, zur Tür an seinem Ende, aus Holz, so alt, dass es zu Stein geworden war. Sie riefen ihn zum Kontrollzentrum, zu Herz und Hirn der Superschmiede, und dort gab es eine andere Stimme, die er zweimal gehört hatte. Beim ersten Mal hatte sie ihn mit Endlich kommst du zu mir begrüßt, beim zweiten Mal mit Du bist zurück.
    Joyce trat vor und versperrte Jazmine den Weg zu seinem Patron. Coltan setzte die Brille auf, erleichtert darüber, dass die Sinnesüberflutung nur von kurzer Dauer gewesen war. Und hinter ihm sprang Sammaccan.
    Der Polymorphe hatte sich die ganze Zeit über im Hintergrund gehalten, wie beschämt von der Wahrheit, und vielleicht auch gestört von der besonderen Realität im Innern des Artefakts, die Rahil – der Schmied in ihm – inzwischen als »postinitialisierte fraktalgeometrische Basiskonfiguration« erkannte. Die veränderten Augen und das knöcherne Gesicht hatten nicht verraten, was in ihm vor sich ging. Möglicherweise hatte er die ganze Zeit über mit sich gerungen und nun eine Entscheidung getroffen.
    Er sprang, und sein Sprung brachte ihn zu Coltan. Der Aufprall ließ Rahils Vater straucheln, und der Controller fiel ihm aus der Hand.
    Sammaccans rechter Arm wurde länger, die Finger streckten sich und schlossen sich um den kleinen Stift, und einige schnelle Schritte brachten ihn zu Rahil.
    »Hier«, zischte er. »Das ist für dich, Rahil Tennerit. Es tut mir leid. Bitte glaub mir, dass es mir leidtut.«
    »Doppelter Verräter!«, knurrte Coltan.
    Joyce stand zwischen Jazmine und Sammaccan und wusste nicht, wem er sich zuwenden sollte.
    Es fiel Rahil inzwischen leichter, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, und dies gehörte in die zweite Kategorie. Er war der Schmied, und hier wartete ein Gigant darauf, seine Wünsche entgegenzunehmen.
    Und es wartete noch etwas anderes.
    Komm zu mir.
    Rahil nahm den Controller und beobachtete, wie er sich, seinem Wunsch folgend, in glitzernden Staub auflöste, der zu den vielen Glassplittern auf dem Boden rieselte.
    »Du hast noch immer nicht verstanden, Vater«, sagte er. »Deine Wünsche spielen hier keine Rolle. Ich bin der Schmied, nicht du.«
    »Junge …«
    Die Ruhe blieb in Rahil, unerschütterlich, wie ein von Femtomaschinen geschaffener Gemütszustand, der dem Missionar half, seine Mission zu erfüllen. Aber auch die Femtomaschinen spielten keine Rolle. Seine Gedanken, aus Materie geboren, schwangen sich auf, die Herrschaft über Materie und Energie an sich zu reißen. Hier droht eine Falle, begriff Rahil. Ein Abgrund, in den der Schmied stürzen konnte, schlimmer als die Sucht nach der Kosmischen Enzyklopädie, die eine

Weitere Kostenlose Bücher