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Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brandhorst
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vergessen. Ich könnte versuchen, ihn an mich zu bringen, dachte Rahil, aber es war ein verträumter Gedanke, ohne großen Tiefgang; andere Dinge waren wichtiger. »Darum ging es ihr von Anfang an«, fuhr Coltan fort. »Alles andere war und ist nebensächlich, selbst der Frieden auf Heraklon. Die meisten Leute, die im Kuratorium sitzen, unterscheiden sich nicht von den Regenten und Herrschern der Gefallenen Welten. Ihnen stehen nur bessere Mittel zur Verfügung.«
    Rahil schwieg.
    »Hast du gehört?«, fragte Coltan. »Es gibt keine Ideale, Junge. Es gibt nur die harte Realität.«
    »Sieh dich um, Vater. Wo sind hier die Grenzen zwischen Schein und Sein? Gibt es sie überhaupt? Dies ist eine eigene Welt, in der Gedanken die wichtigste Rolle spielen. Die Gedanken des Schmieds.«
    »Machen Sie nicht den Fehler, die Realität zu verdrängen, Rahil«, sagte Joyce. Seine Augen blieben hinter den Wahrnehmungsfiltern der Brille verborgen, aber Rahil sah sie trotzdem: staunend, voller Anspannung und Erwartung. Und vielleicht auch voller Unbehagen und Furcht. Dies war nicht seine Welt, obwohl er sich mit Schmieden auskannte. Er gehörte nicht hierher, ebenso wenig wie Coltan und Sammaccan. Nur ein Schmied konnte hier zu Hause sein. »Sie existiert weiterhin, unabhängig von Ihnen. Manche Schmiede vergessen das.«
    »Und was geschieht mit ihnen, wenn sie es vergessen?«, fragte Rahil, obwohl er die Antwort kannte.
    »Sie schnappen über«, sagte Joyce ernst. »Sie verlieren den Verstand.«
    »So wie deine Tochter, Vater. Du hast sie hierherbringen lassen, damit sie dir dein Spielzeug übergibt. Aber sie wurde verrückt.«
    Coltan drehte sich um, kehrte dem Friedhof mit den weißen Grabsteinen und der hohen Mauer den Rücken. »Wo ist sie?«
    »Ganz in der Nähe«, sagte Rahil und führte seinen Vater, Joyce und Sammaccan in den Spiegelsaal.
    Der Saal war größer geworden, und die Spiegel, dünn und zer brechlich, höher. Oben wölbten sie sich, als wollten sie ein reflektierendes Dach formen. Ein leises Summen lag in der von grauem Licht durchdrungenen Luft wie der Anfang einer Melodie.
    In jedem Spiegel tanzte Jazmine zu einer Musik, die nur sie hörte. In ein aquamarinblaues Gewand gehüllt drehte sie sich um die eigene Achse, die Arme ausgebreitet, der Kopf noch immer haarlos, das Gesicht noch immer voller Narben. Die Augen hatte sie geschlossen, und manchmal bewegten sich ihre Lippen, als sänge sie ein Lied.
    »Wo ist sie?«, fragte Coltan und trat zwischen die ersten Spiegel.
    »Ich bin hier, Vater«, kam die Antwort aus den Spiegeln. »Hier bin ich.«
    »Jaz …«
    »Nenn mich nicht so!«, rief Jazmine, und die Spiegel zitterten und klirrten. »Nur mein Bruder darf mich so nennen, du nicht.«
    Coltan streckte die Hand nach dem nächsten Spiegel aus, zog sie dann wieder zurück. »Komm zu uns, Jazmine. Dein Bruder ist hier. Siehst du ihn? Ich habe deinen Bruder mitgebracht, und wir brauchen deine Hilfe.«
    »Du brauchst meine Hilfe?« Jazmine drehte sich wieder, setzte ihren Tanz in den Spiegeln fort. »Du hast mich all die Jahre allein gelassen, und jetzt brauchst du meine Hilfe?«
    »Wir wollen zum Kontrollzentrum«, sagte Coltan. »Du könntest deinem Bruder dabei helfen, es zu öffnen.«
    »Mein Bruder, der dumme Junge.« Jazmine-im-Spiegel blieb stehen, aber ihr Kleid bewegte sich weiter, wie von einem Wind erfasst, oder wie von einem eigenen Willen zum Tanz beseelt. »Glaubt er vielleicht, die Tür öffnen zu können? Wie dumm von dem dummen Jungen!«
    »Du hast auch gesagt, ich könnte die flüsternden Stimmen nicht verstehen«, sagte Rahil. »Aber ich habe sie verstanden, Jaz. Komm aus den Spiegeln. Komm hierher.«
    »Hier bin ich nicht allein«, sang Jazmine. »Hier leiste ich mir selbst Gesellschaft.«
    »Komm her!«, rief Coltan. »Gehorche deinem Vater!«
    »Mein Vater willst du sein?«, sang Jazmine. »Wie kannst du mein Vater sein, wenn mich eine Maschine geboren hat? Wie willst du mein Vater sein, wenn du nie bei mir gewesen bist?«
    Sie schrie, und ihr schrilles Kreischen ließ die Spiegel bersten. Tausende von Splittern flogen durch graue Luft, und Rahil nahm sie wie in gedehnter Zeit wahr, jeden einzelnen von ihnen. Fasziniert beobachtete er, wie sie sich ihm näherten und dicht vor ihm mit einem kurzen Aufblitzen verschwanden. Das Artefakt schützt mich, dachte er. Es lässt nicht zu, dass mir etwas ge schieht. Wir gehören zusammen, die Schmiede und der Schmied. Es war ein interessanter Gedanke,

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