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Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brandhorst
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beschlossen, meine Zeit zu verlassen und in die Vergangenheit zu reisen, aber es war eine bestimmte Situation, die mir diese Entscheidung nahelegte. Und du … Hast du nicht immer in erster Linie an die Pflicht gedacht?
    Es hat mir geholfen, nicht an andere Dinge zu denken, erwiderte Rahil.
    Jazmine – die kahlköpfige Jazmine mit den Narben im Gesicht – stand auf der anderen Seite des Podiums und sah von dort aus zur Gestalt im Sessel hoch. Ihre Lippen bewegten sich, und Rahil verstand die Worte, obwohl sie lautlos blieben.
    Halb gesprochen und halb gesungen,
Hat es nur tönern und hohl geklungen …
    Er dachte an eine andere Frau, die er als Knabe bewundert hatte, an ihre Sommersprossen und das fröhliche Lächeln, das Farbe in einen trüben Tag bringen, das Grau aus ihm vertreiben konnte.
    Erneut erinnerte er sich an Emily, und an ihre Worte. Es ist wichtig, den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge zu erkennen, hatte sie gesagt.
    Aber wie sollte man in einer Welt voller Lügen die Wahrheit erkennen?
    Auch deshalb sind wir hier , sagte der Pilot. Um die Wahrheit zu erkennen.
    Seine Worte bezogen sich auf andere, größere Bilder, die ganze Welten betrafen und noch mehr, aber Rahil sah ein klei nes Bild auf einer kleinen Welt. Es zeigte ihm eine dunkle Nacht, den Gasriesen Cambronne, hinter einer dichten Wolkendecke verborgen. Es zeigte ihm Ruben, Darel und andere Männer, die mit einem Leichnam die Stadt Meemken verließen und jenseits der Stadtgrenzen, auf dem Friedhof für Namenlose, damit begannen, das in ein Leichentuch gehüllte Bündel zu verscharren. Als sie es ins Grab rollen ließen, rutschte das Tuch vom Kopf herunter, und Rahil sah das Gesicht der Leiche. Es war das Gesicht einer Frau, voller Sommersprossen.
    Etwas zitterte in Rahil, inmitten der Ruhe, aber nur kurz. Es war nicht mehr als ein leichtes Kräuseln auf der unbewegten Oberfläche eines stillen Sees, eine kaum sichtbare Welle, verursacht von einem fallenden Sandkorn. Es regte sich kein Zorn in Rahil, nur Trauer.
    »Du hast sie tatsächlich getötet, Vater.«
    »Was? Wovon redest du da?«
    »Von Emily, an deren Namen du dich nicht einmal erinnert hast. An unser Kindermädchen, als Jaz und ich acht und elf waren, damals in Meemken. Du hast gesagt, sie sei von uns gegangen, und ich dachte, du hättest ihre Rückkehr zur Ägide gemeint. Aber du hast sie umbringen lassen.«
    Coltan starrte ihn entgeistert an.
    »Wie viele Menschen hast du in den Tod geschickt, Vater?«, fragte Rahil. »So viele, dass du dich nicht einmal an alle erinnerst.«
    »Junge …«
    »Und jemandem wie dir soll ich diese Superschmiede überlassen?«
    »Ich meine es gut, Junge, glaub mir. Stell dir vor, das Artefakt geriete in die Hände der Segler. Oder von Burion. Oder von Larralde.« Coltan fügte hinzu: »Wir können die Superschmiede zusammen kontrollieren. Was hältst du davon? Du und ich. Wir entscheiden gemeinsam, was wir mit dem Artefakt machen.«
    Rahil achtete nicht darauf. »Ich dachte immer, ich hätte Jazmine belogen. Ich habe ihr gesagt, du hättest Emily umgebracht. Letztendlich gab das den Ausschlag, glaube ich. Die Lüge. Die vermeintliche Lüge. Und dann starb sie, an Bord der Rosenduft . Über Jahrzehnte hinweg habe ich mir die Schuld daran gegeben, Vater. Es wurde so schlimm, dass ich die Hilfe eines Psychomechanikers in Anspruch nehmen musste. Immer wieder sagte ich mir: Ich habe Jazmine belogen, damit sie Caina mit mir verlässt; ohne die Lüge wäre sie geblieben und nicht an Bord von Duartes’ Schiff gestorben.«
    »Hör mir zu, Junge. Wir beide gemeinsam, wir können die Menschheit mit dem Artefakt in die Zukunft führen …«
    »Hast du gehört, Jaz?«, wandte sich Rahil an seine Schwester, die noch immer auf der anderen Seite des Podiums stand. »Es stimmt. Er hat Emily tatsächlich getötet.«
    »Emily?«, fragte Jazmine und schien dem Klang der eigenen Stimme zu lauschen. »Wer ist Emily?«
    Wieder regte sich Trauer in Rahil, aber nur kurz. Die Ruhe in ihm glättete alle emotionalen Wogen.
    »Es wäre deine Zukunft, Vater, nicht meine«, sagte er und fügte in Gedanken hinzu: Was ist mit deiner Zukunft, Pilot? Wenn ich es richtig verstehe, hängt sie von mir ab, nicht wahr?
    Ja, in gewisser Weise.
    Kannst du laut sprechen, Pilot?, fragte Rahil, noch immer mit der inneren Stimme. Ich möchte, dass dich die anderen hören.
    »Ja, ich kann auch so sprechen, aber es kostet mich mehr Kraft. Meine letzte Erneuerung fand vor der Reise durch die

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