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Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brandhorst
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ein wenig von der Scheibe zurück und griff nach ihrem langen, pechschwarzen Zopf. Das machte sie immer, wenn sie nachdenklich war. »Ist das ein … Taifun?«
    Emily lächelte, und dadurch schienen die Sommersprossen in ihrem Gesicht zu tanzen. Sie saß in einem Schaukelstuhl, der knarrte, wenn sie sich bewegte. »Es freut mich, dass du dich an das Wort erinnerst. Nein, Jazmine, das dort draußen ist kein Taifun. Taifune sind viel, viel stärker. Oder waren es.«
    »Gibt es sie nicht mehr?«, fragte Jazmine.
    »Ich weiß es nicht«, sagte Emily, und es klang fast traurig. »Ich bin lange nicht mehr auf der Erde gewesen.«
    »So lange kann das nicht her sein«, sagte der elfjährige Rahil und gab seiner drei Jahre jüngeren Schwester einen Keks vom großen Teller auf dem Tisch. Emily hatte sie selbst gebacken. »Du bist noch jung.«
    »Oh, ich bin viel älter, als du denkst, Rahil. Dort, wo ich herkomme …« Sie zögerte.
    »Meinst du die Erde?«, fragte Jazmine und knabberte an dem Keks.
    »Nein, du meinst die Ägide, nicht wahr?«, sagte Rahil.
    Emily lächelte erneut und hob den Zeigefinger an die Lippen. »Pscht. Das ist unser Geheimnis, nicht wahr?«
    Jazmine, zart und klein, mit dem langen schwarzen Zopf über ihrer linken Schulter, nickte und strahlte. Sie war genau im richtigen Alter für Geheimnisse.
    Draußen fauchte der Wind, und Regen prasselte ans Fenster. Die Greifarme der Kräne bewegten sich wie die Tentakel mons tröser Geschöpfe. Weiter hinten, inmitten der von den Böen aufgewirbelten Gischt, pflügte ein Schiff durch die Wellen, die Segel längst eingeholt. Rahil beobachtete, wie es den Hafen erreichte und sich mit einer mühelosen Eleganz, die auf die Präsenz starker Maschinen hindeutete, dem Kai näherte. Dort standen mehrere Gestalten, unter ihnen eine, die weder von Caina noch den anderen Welten des Dutzends stammte. Es war ein Insektoide, sehr groß, mit dreieckigem Kopf und langen Knochenfingern, die aus den Ärmeln des Regenmantels ragten. Ein Ascar, jemand aus dem Volk der Jäger, das aus dem galaktischen Kern stammte. Ein Ascar aus der Volksgruppe der Pacana, nach den Zeichen an Mantel und Kopf zu urteilen. Emily hatte ihnen Bilder gezeigt und vom Eisschrein in der arktischen Enklave von Caina erzählt, einem großen Heiligtum für alle Ascar. Was machte er hier, in der Begleitung jener Menschen?, fragte sich Rahil.
    Während er den Insektoiden noch beobachtete, drehte sich die große Gestalt um, und plötzlich fühlte sich Rahil von dunk len Facettenaugen angestarrt. Mit einem kurzen Schaudern wandte er sich vom Fenster ab.
    »Was weht dort draußen?«, fragte Emily.
    »Wind«, sagte Jazmine mit vollem Mund.
    »Ein Sturm«, sagte Rahil.
    »Da habt ihr beide recht.« Emily nickte zufrieden, und Rahils Blick ging kurz zu den Händen, die in ihrem Schoß ruhten. Sie waren schmal und klein, fast wie die eines Kindes. Er mochte es, wenn sie ihm eine dieser Hände auf den Kopf oder die Schulter legte. Seine Mutter machte das nie, und die Hand seines Vaters fühlte sich anders an, kalt und hart. »Und wie nennen die Leute hier einen richtig heftigen Sturm?«
    Rahil wusste, dass sie damit die Bewohner der Stadt Meemken und ganz Cainas meinte. Die Leute hier . Konnte man damit die Menschen einer ganzen Welt meinen? Es waren viele, aber es klang nach wenig, nach Provinz und Bedeutungslosigkeit.
    »Nordostpassat«, sagte Jazmine und freute sich, dass sie die Antwort wusste.
    »Obwohl der Wind aus dem Norden kommt und nicht aus Nordosten.« Der Schaukelstuhl knarrte, als sich Emily zur Seite beugte und ebenfalls einen Keks nahm. Sie betrachtete ihn kurz, biss dann ein Stück von ihm ab. »Die Siedler, die vor viertausend Jahren hierherkamen, brachten den Namen von der Erde mit. Im Lauf der Generationen verlor er seine ursprüngliche Bedeutung und wurde zu einem Synonym für › Wind ‹ oder › Sturm ‹ .«
    »Viertausend Jahre«, wiederholte Jazmine. »Das sind viele Jahre.«
    »Sehr viele«, sagte Emily.
    »Bist du so alt?«
    Emily lachte. Rahil hörte sie gern lachen. »Nein, nicht ganz, Jazmine. Nicht annähernd.«
    Rahil wusste inzwischen, was »Synonym« bedeutete. Die Erklärung für das Wort hatte er in einem der alten Bücher in der Bibliothek seines Vaters gefunden. »Ein Taifun ist ein sehr heftiger Sturm.«
    »Die Taifune auf der Erde waren manchmal so stark, dass der Wind ganze Gebäude wegblies«, sagte Emily.
    Jazmine hörte auf zu kauen und sah wieder aus dem Fenster. »Kann das

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