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Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brandhorst
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dabei erwischen.«
    »Stellt euch vor, sie würden ihn nicht bestrafen, weil sie Angst vor ihm haben.«
    »Warum sollten die Lehrer vor Mowder Angst haben?«, fragte Jazmine verwundert.
    Rahil hörte zu und beobachtete.
    »Wenn er etwas hat, das ihm Macht über sie gibt?«, erwiderte Emily. »Etwas, durch das er auch Macht über eure Eltern hat. Über alle. Stellt euch vor, niemand könnte Mowder an seinen bösen Streichen hindern oder ihn bestrafen. Wie wäre das?«
    Jazmine brauchte nicht lange zu überlegen. »Es wäre schrecklich . Ich würde nicht mehr zur Schule gehen.«
    Rahil glaubte zu verstehen. »Hast du das eben mit der Frage gemeint, ob genug Macht für alle da ist?«
    Wieder erschien ein anerkennendes Lächeln auf Emilys Lippen. »Ja, Rahil, das hast du gut erkannt. Du hast einen sehr intelligenten Bruder, Jazmine.«
    »Er ist auch drei Jahre älter als ich.«
    »Die Maschinen, die alles produzieren … Stellt euch vor, wir brächten sie hierher und sie gerieten in die Hände eines Menschen, der wie euer Mowder ist. Der nur an sich denkt und sich dumme Späße mit allen anderen erlaubt.«
    »Der den anderen nicht gibt, was sie brauchen?«
    »Ja, Rahil. Stellt euch die Maschinen in der Hand eines erwachsenen Mowder vor, der mit ihnen die Geschicke der ganzen Welt bestimmen kann, ohne dass ihm jemand Einhalt gebietet oder er Strafe befürchten muss.«
    Rahil versuchte es sich vorzustellen. »Es wäre schlimm.«
    »Das ist der Grund«, sagte Emily langsam. »Deshalb bringen wir die Maschinen nicht hierher. Wir bringen nichts hierher, das jemandem zu viel Macht geben könnte. Weil wir vermeiden möchten, dass ein Mowder mit der ganzen Welt machen kann, was er will.«
    »Du hast keine Maschinen mitgebracht, aber das hier.« Jazmine hob den Würfel. »Damit bekommt niemand zu viel Macht.«
    »Glaubst du, Schatz?«, erwiderte Emily sanft. »Der Würfel enthält Geschichten, und Geschichten können viel verändern, hier drin.« Sie klopfte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe.
    Der Wind ließ nach, und das laute Prasseln der Regentropfen am Fenster hörte auf. Plötzlich herrschte Stille im Zimmer, untermalt von einem leisen, zweistimmigen Knistern, das vom Feuer im Kamin und dem Würfel in Jazmines Händen kam.
    Ein Knarren gesellte sich ihm hinzu, aber es stammte nicht vom Schaukelstuhl.
    Für einen Moment regte sich niemand von ihnen, und Jazmines Hand erstarrte mitten in einem Schmetterlingsschwarm. Sie richtete einen erschrockenen Blick auf Emily, die den Zeigefinger an die Lippen hob.
    Rahil blieb still, obwohl er am liebsten gesagt hätte: Dies ist ein Geheimnis; niemand weiß, dass wir hier sind.
    Das Knarren wiederholte sich – es stammte von einer Stufe der Holztreppe, da war Rahil sicher –, und dann klopfte es an der Tür.
    Mach nicht auf!, wollte er rufen. Lass uns hier sitzen bleiben, ganz still, ohne einen Laut, und so tun, als wäre niemand da. Aber Emily stand auf, und eine seltsame Resignation zeigte sich in ihrem Gesicht. Sie sah erst Jazmine an und dann Rahil, streckte langsam die Hände nach ihnen aus, als wollte sie sie umarmen, und hauchte: »Es tut mir leid.«
    »Machen Sie auf«, ertönte draußen eine Stimme. »Wir wissen, dass Sie da sind.«
    »Das ist Ruben!«, entfuhr es Jazmine.
    Emily öffnete die Tür, und zwei Männer kamen herein: der eine dürr und so groß, dass er sich bücken müsste, um nicht mit dem Kopf gegen den Türsturz zu stoßen, der andere kleiner und breiter, mit einem runden Gesicht. Sie trugen dunkle Kleidung mit dem Familienwappen, das die alte Zitadelle von Dymke zeigte, mit den sieben Säulen der Tennerits. Der kleinere, muskulöse Mann blieb neben der Tür stehen, und der Dürre trat mit einigen langen Schritten in die Mitte des Zimmers.
    »Ich bringe euch zurück«, sagte Ruben zu Jazmine und Rahil. Er fragte nicht, ob sie mitkommen wollten, und Rahil und seine Schwester dachten nicht einmal daran, ihm zu widersprechen.
    Jazmine strich mit dem Daumen über eine Fläche des Würfels, und das Bild des Waldes und der Schmetterlinge verschwand. Sie wollte den Würfel Emily zurückgeben, aber die schüttelte den Kopf.
    »Nein, behalt ihn«, sagte Emily. »Und denk daran: › Halb gesprochen und halb gesungen … ‹ «
    Hat es nur tönern und hohl geklungen, vervollständigte Rahil in Gedanken den Satz. Es waren die ersten Worte eines alten Gedichts, das Emily oft gesungen hatte, und sie sanken noch tiefer in Rahils Gedächtnis, wie eine Botschaft, die

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