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Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brandhorst
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auch hier passieren?«
    »Nein, hier nicht, Jazmine. Keine Angst.« Emily beugte sich vor, und der Schaukelstuhl knarrte erneut. »Möchtet ihr wissen, wie man die Stürme auf der Erde nannte? Soll ich euch ihre Namen nennen?«
    Jazmine nickte aufgeregt, als wären Namen allein schon ein halbes Abenteuer.
    »Man nannte sie Orkan oder Hurrikan, Schirokko und Gibli, Leste, Harmattan, Samun, Chamsin, Tramontana, Sarma, Pampero und Joran.«
    »So viele Namen für Sturm«, staunte Jazmine und sah aus dem Fenster. »Und bei uns heißt der Wind nur Passat, wenn er besonders stark ist. Warum haben wir nur diesen einen Namen und nicht so viele wie auf der Erde?«
    »Weil wir die anderen vergessen haben«, sagte Rahil. »Weil unsere Vorfahren sie vergessen haben.«
    Emily musterte ihn. »Das stimmt, Rahil. Du bist ein aufmerksamer Zuhörer. Ja, eure Vorfahren haben die Namen vergessen. Und auch vieles andere.«
    »Wie sieht es auf der Erde aus?«, fragte er.
    »Sie wurde damals verwüstet, vor sechshundert Jahren«, antwortete Emily und sprach etwas leiser als vorher. Das Prasseln des Regens schien bestrebt zu sein, ihre Stimme zu übertönen. »Dort sieht es schlimm aus, noch schlimmer als hier.«
    »Sieht es bei uns schlimm aus?«, fragte Rahil. Er fand, dass alles normal aussah, abgesehen von den Tagen, an denen es Vulkanasche regnete, und an den Tagen danach, wenn der Müll in den Straßen liegenblieb, weil die Transporter in der Asche steckenblieben oder ihre Motoren versagten.
    »Ich will nicht von Dingen reden, die schlimm aussehen!«, rief Jazmine plötzlich und hielt ihren Zopf mit beiden Händen. »Ich will Dinge sehen, die schön sind! Hast du den Würfel mitgebracht?« Ihre Augen wurden groß, und sie strahlte wieder, als sie Emily schmunzeln sah. »Du hast ihn mitgebracht!«
    »Wie hätte ich ihn vergessen können, mein Schatz?«, sagte Emily. »Ich weiß doch, wie sehr er euch beiden gefällt.« Sie griff in eine Tasche ihres langen Kleids, das kein gewöhnliches Kleid war – es konnte sich verändern und zu einem anderen Kleidungsstück werden; das wusste Rahil, weil er Emily im Fami lienhaus mehrmals heimlich beobachtet hatte –, und holte einen Würfel hervor, dessen Flächen bereits »lebendig« geworden waren, wie Jazmine es nannte. Bilder leuchteten dort, darin Gestalten und Dinge, die sich bewegten, die darauf warteten, größer und zu Geschichten zu werden.
    Draußen wurde es dunkler, und Cambronnes bunte Bänder blieben hinter den tief hängenden graubraunen Wolken verborgen. Wind zischte, Regentropfen prasselten an die Fensterscheiben, und im Kamin züngelten Flammen über knisternden Scheiten. Dies war erst ihr zweiter Besuch in der kleinen Wohnung über dem Lagerhaus am Hafen, aber Rahil erschien alles auf eine sehr angenehme Weise vertraut. Er ertappte sich dabei zu bedauern, dass sie bald zum Familienhaus auf dem Hügel zurückkehren mussten, hinter die hohen Mauern, die das Anwesen von der Stadt trennten.
    »Rahil?« Jazmine hielt ihm den Würfel entgegen. »Ich habe ihn das letzte Mal gehalten. Diesmal bist du dran.«
    Für einen Moment war er versucht, den Würfel mit den wartenden, lockenden Bildern entgegenzunehmen. Aber er wusste genau, wie sehr er Jazmine gefiel und wie gern sie ihn in den Händen hielt.
    »Das nächste Mal«, sagte er. »Das nächste Mal nehme ich ihn.«
    Jazmines glückliches Lächeln bedeutete ihm viel, aber noch wichtiger war die zufriedene Anerkennung, die in Emilys Gesicht erschien. Fingerkuppen, die eben noch am Fenster den Regentropfen gefolgt waren, strichen über die Seiten des Würfels, und mit einem Knistern wuchsen Bilder, wurden größer als der Tisch und ragten fast bis zur Decke hoch. Eine Stadt erschien, nicht klein und schmutzig wie Meemken, sondern groß und glänzend, bestehend aus Türmen, zwischen denen sich Brücken spannten; sie waren so hoch, dass sie Wolken weiß wie Schnee durchstießen. Flugzeuge ohne Flügel schwebten zwischen ihnen, nicht einige wenige, wie sie manchmal über Meemken erschienen, wenn die Himmelsgezeiten günstig waren und andere Welten des Dutzends in die Nähe von Caina brachten, sondern viele, so viele, dass sich Rahil fragte, wie sie es schafften, Kollisionen zu vermeiden.
    »Das ist Ganska im Nevarezz-System«, sagte Emily. »Es gehört zur Bruch-Gemeinschaft, von der ich euch erzählt habe.«
    Jazmine löste eine Hand vom immer noch leise knisternden Würfel und ließ sie durch die Stadt gleiten. »Dort bekommt jeder, was

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