Artefakt
durch die Öffnung in einen vertikalen Schacht, in dem offenbar geringerer Luftdruck herrschte. Dort erfasste ihn die Zentrifugalkraft des rotierenden Habitats, und er hielt sich gerade noch rechtzeitig an einer Sprosse der Leiter fest, die an einer Wand nach unten und nach oben führte. Seine Beine baumelten kurz über einer Tiefe, die ihn anzusaugen schien. Dann fanden die Füße Halt, und er kletterte nach oben, so schnell er konnte.
Warum hatten die Großen Familien des Dutzends einen Ascar auf ihn angesetzt, und welchen Zusammenhang gab es mit Heraklon und seinem dortigen Tod vor etwa zwei Monaten?, überlegte Rahil, während sein Körper agierte und von ganz allein zu wissen schien, worauf es ankam. Sein Vater war längst tot – Rahil hatte die Entwicklungen auf Caina während der vergangenen Jahrzehnte ganz bewusst nicht verfolgt und wusste daher nicht, wann Coltan gestorben war und wer jetzt seinen Platz am blutroten Schreibtisch eingenommen hatte. Welches Interesse konnten die Familien nach all der Zeit an ihm haben? Und wieso gerade jetzt?
Heraklon, dachte er. Alle Wege führten dorthin.
Dreißig Sprossen weiter oben stieß er auf eine Luke mit mechanischer Verriegelung. Rahil öffnete sie und erreichte einen schmalen Gang, der aus einer Mischung von Stahl und Kunststoff bestand und offenbar zur externen Verschalung des Habitats gehörte. Er hörte Geräusche weiter unten im vertikalen Schacht, lief los und fragte sich, ob er es wagen sollte, die Programmbibliotheken der Rüstung zu öffnen. Eigentlich blieb ihm keine Wahl, denn von den Bibliotheken aus konnte er auf die Datenbanken zugreifen, und er brauchte Informationen über die Struktur des Habitats – es hatte keinen Sinn, einfach nur durch die Dunkelheit zu laufen und zu hoffen, dass sich ihm irgendwo und irgendwie eine Möglichkeit bot, den Verfolger endgültig abzuschütteln.
Nach einem objektiv nur wenige Mikrosekunden langen Zögern öffnete er die Bibliotheken und erhielt sofort Informationen über den Ascar. Das innere Auge sah ihn deutlich, schaute durchs Visier und deutete die Anordnung der Augenbündel, ihre Farbe und die wie Tätowierungen aussehenden Reifezeichen auf dem Streifen Knochenhaut, der zwischen den Bündeln und der Kommunikationsmaske erkennbar war. Ein Ascar der Pacana-Gruppe, die in der arktischen Enklave von Caina lebte, in unmittelbarer Nähe des Eisschreins, der bei allen Volksgruppen der Ascar als großes Heiligtum galt. Rahil erinnerte sich plötzlich daran, als Kind auf seiner Heimatwelt einmal einen solchen Pacana-Ascar gesehen zu haben, an jenem verregneten Tag am Hafen von Meemken, am letzten Tag mit Emily. Dass es sich um dieses Individuum – beziehungsweise um diese Individuums version – handelte, war extrem unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen, wenn man die Umstände bedachte. Die Ascar verfügten über einen Extrasinn, der sie auf ihrem Heimatplaneten im galaktischen Kern zu gefürchteten Jägern gemacht hatte: Sie konnten die einzigartige, unverwechselbare Biosignatur eines einzelnen Geschöpfs erfassen und sie unter Millionen und sogar Milliarden anderen wiederfinden, in einem Umkreis von mehreren zehntausend Kilometern. Wenn sie auf einem Planeten die Witterung ihres Opfers aufgenommen hatten, konnte es nur entkommen, wenn es die betreffende Welt verließ, ohne Spuren zu hinterlassen. Und selbst dann gelang den Ascar manchmal die Verfolgung, selbst über Lichtjahre hinweg, als gäbe es für ihren Extrasinn keine räumlichen und zeitlichen Beschränkungen. Hatte ein Pacana-Ascar damals Rahils Witterung aufgenommen und sie zusammen mit vielen anderen seinem Duft-Archiv hinzugefügt, um die Möglichkeit zu haben, irgendwann einmal darauf zurückzukommen?
Es strömten weitere Informationen über die Ascar und dieses spezielle Exemplar in Rahils Bewusstsein, und er nahm sie auf, ohne ihnen seine volle Aufmerksamkeit zu widmen. Wichtiger waren die in den Datenbanken enthaltenen Schemata des Habitats, die nicht vor dem inneren Auge erschienen, sondern direkt in seinem Blickfeld, als ein spinnennetzartiges Muster, das ihm mitteilte: Von diesem Gang aus gab es keinen Zugang zum Depot der Ägide. Enttäuschung streifte ihn – er blieb ohne Waffe.
Dann bemerkte er etwas anderes, während er eine Drucktür passierte und sie hinter sich schloss, ohne sie verriegeln zu können. Nur etwa hundert Meter trennten ihn von einem alten Hangar mit Wartungskapseln, die einst für Instandhaltung und Reparatur der
Weitere Kostenlose Bücher