Artefakt
wahrsten Sinne des Wortes atemberaubenden Sturzflug, wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Sammaccan war so klug gewesen, in einem dunklen Teil der Stadt zu landen, inmitten von niedrigen Gebäuden, die unbewohnt zu sein schienen und vielleicht als Lagerhallen dienten. Einige Dutzend Meter entfernt standen Transportfahrzeuge in Reih und Glied und warteten auf Volontäre oder von einer Maint übermittelte Arbeitsanweisungen.
Aus dem geflügelten Geschöpf mit dem langen Schnabel und den großen Greifklauen wurde wieder der Polymorphe aus Munraha auf Heraklon, ein knapp zwanzig Jahre junger Mann, schmächtig und in eine weite braune Hose und eine Hemdjacke gekleidet, die in Wirklichkeit keine Kleidung waren, sondern Teil seines Körpers.
»Wie stellst du es an?«, fragte Rahil und spürte, wie ihn die Rüstung beruhigte. »Ich meine, das geflügelte Geschöpf, das uns hierhergebracht hat, war viel größer als du und hatte vermutlich auch mehr Masse.« Der Stuhl fiel ihm ein, auf den er sich im Instrumentenraum des Shifters gesetzt hatte. Er war klein gewesen, und bestimmt leichter als der junge Mann, der da vor ihm stand. »Wie stellst du das mit dem Massenunterschied an?«
»Ich nehme und gebe«, sagte Sammaccan. »Ich öffne eine Tür, mit meiner … dritten Hand, und dahinter gibt es genug Masse für jede Gestalt, die ich annehmen möchte, und es gibt auch genug Platz, um das, was ich nicht brauche, dort abzulegen.«
Rahil bemerkte die kurze Pause bei der simultanen Übersetzung durch das Kommunikationssystem der Rüstung und schloss daraus, dass »Tür« nicht ganz das passende Wort war. Wie eine Auslagerung, dachte er, und Erinnerungen schlüpften an der mentalen Kontrolle vorbei. Die Rosenduft , die gar nicht nach Rosen geduftet hatte, dachte er. Die geschrumpften, ausgelagerten Dinge an Bord. Jazmine …
»Warum fragst du mich jetzt danach, Rahil Tennerit?«, fügte Sammaccan erstaunt hinzu. »Sollten wir nicht besser fliehen?«
Rahil sah an dem zweihundert Stockwerke hohen Gebäude empor, von dem sie gerade heruntergesprungen waren. Licht kam aus manchen Fenstern, aber viele waren dunkel. Ganz oben leuchtete ein rotes Warnsignal und wies auf eine dringende Angelegenheit der Ägide hin. Es war nur noch eine Frage von Sekunden oder höchstens Minuten, bis die Aura der Aun-Welt Eckrote Nachrichten über einen angeblich falschen Rahil Tennerit enthielt.
»Ja, du hast recht, das sollten wir besser. Aber vorher …« Rahil trat auf Sammaccan zu und streckte die Hand aus. Der Polymorphe ergriff sie zögernd. »Ich danke dir. Von jetzt an bist du nicht nur mein Assistent, sondern auch mein Freund, Sammaccan von Heraklon. Und ich verspreche dir: Wenn du mir weiterhin so gute Dienste leistest, setze ich mich dafür ein, dass du Missionar werden kannst.«
Die Brust des Polymorphen schwoll voller Stolz an. »Kann ich meinen Brüdern in Munraha dann Waffen bringen?«, fragte er hoffnungsvoll.
Rahil seufzte. »Komm«, sagte er, und sie eilten durch die Nacht.
Die Nacht wurde zum Tag, als sie sich dem Hafen der großen schwimmenden Stadt näherten. Dutzende von mobilen Lampen schwebten wie kleine Sonnen über der Menge, die vor dem großen Katamaran mit den schneeweißen Segeln wartete. Laute Stimmen übertönten die Nachrichten, die jeder hören konnte, der mit der Aura von Eckrote verbunden war. Einige dieser Nachrichten betrafen jemanden, der sich als Missionar der Ägide ausgab, und seinen Komplizen, zwei gefährliche Individuen, die sofort den Justizdelegaten gemeldet werden mussten. Über dem zweihundert Stockwerke hohen Gebäude mit der Niederlassung der Ägide leuchteten keine Warnsignale mehr, sondern die Gesichter der beiden Gesuchten, wie zwei Vollmonde am dunklen Himmel.
Rahils Rüstung hatte sich bis zur Stirn ausgedehnt und seine Züge verändert, und Sammaccan war zu einem Mann Anfang dreißig geworden, gekleidet in einen Anzug aus kleinen blauweißen Schuppen, der zum Meeresmotiv der Kreuzfahrt passte. Niemand würde sie erkennen, nicht einmal ein Delegat, der besonders aufmerksam Ausschau hielt. Und auf ihre Biosigna turen programmierte Sensoren würden es schwer haben, sie in dieser Menschenmenge zu finden. Sie hatten Glück, doch auf diesen launischen Verbündeten konnten sie sich nicht auf Dauer verlassen.
»Wie lautet der Plan, Rahil Tennerit?«, fragte Sammaccan aufgeregt. Er versuchte so sehr, unauffällig und harmlos zu wirken, dass er sich damit fast schon verdächtig machte.
Sie
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