Artefakt
übertrug.
Die Tür sprang auf, schwang herum und schlug mit solcher Wucht an die Wand, dass mehrere Gegenstände aus den Regalen fielen. Eine Gestalt zeichnete sich im Licht des Flurs ab, und Rahil versuchte, sie zu erkennen.
»Rahil Tennerit, Sie sind identifiziert und sehen mich«, knarrte eine Stimme.
»Ich sehe nichts, verdammt«, ächzte Rahil und stemmte sich halb hoch. Die Bewegung kostete ihn so viel Kraft, dass er sofort wieder zu Boden sank. Ihm wurde schwarz vor Augen, aber er blieb bei Bewusstsein und hörte, wie der Ascar in den Lagerraum stapfte. Eine kalte Hand berührte ihn – kalt wie der Eisschrein auf Caina, dachte Rahil –, und aus der Dunkelheit vor seinen Augen schälte sich ein dreieckiger Kopf, der in einem verbeulten Rezeptorhelm steckte. Das Visier wies zwei lange Sprünge auf, und dahinter zeichneten sich mehrere dunkle Augenbündel ab. Der Tarnanzug funktionierte nicht mehr richtig. An einigen Stellen machte er den Träger wie durchsichtig, an anderen war er dunkler als die Nacht außerhalb des Katamarans.
Die auffälligste Veränderung betraf den Ekdysis-Kokon auf dem Rücken des Ascar. Er war fleckig und schlaff, an einer Stelle aufgerissen. Flüssigkeit war ausgelaufen, hatte eine dünne Kruste wie Schorf an der Öffnung gebildet und darunter einen langen Streifen auf dem Tarnanzug hinterlassen. Die Reifezeichen auf der Knochenhaut über der Kommunikationsmaske konnte Rahil ohne die Datenhilfe der Rüstung nicht deuten, aber eins stand fest: Dieser Ascar würde sich in absehbarer Zeit nicht verpuppen können; mit seiner Verjüngung zu einer neuen Individuumsversion musste er warten, bis er imstande war, sich einen neuen Kokon wachsen zu lassen.
Der Transfer durchs Frachtfraktal hat ihn offenbar mehr mit genommen als uns, dachte Rahil mit einer gewissen Genugtuung.
Der Gesserat fiel ihm ein. Jar Enhelian Gavira Enei Cropcor’al’Tentero az Halgewi – wie seltsam, dass er sich so genau an diesen komplizierten Namen erinnerte. Zacharias. Er hat uns geholfen, dachte Rahil. Und der Ascar musste ohne seine Hilfe auskommen.
Er blinzelte, und am Rand der Ohnmacht sah er plötzlich nicht mehr durchs gesprungene Visier des Ascar, sondern auf eine Waffe.
»Sie haben mir mein neues Leben genommen, Rahil Tennerit«, knarrte die Stimme des Jägers. »Jetzt muss ich lange warten, bis ich mich verjüngen kann, vielleicht zu lange. Ich sollte Sie töten, aber die Regeln der Jagd sind wichtiger als mein Zorn. Dies ist …« Es folgte ein Zischen und Knarren, das für Rahil ohne Bedeutung blieb. »… und ich folge dem Pfad der Ehre. Dieser Auftrag ist bald erfüllt.«
Rahil spürte gar nicht mehr, wie der Ascar mit dem Inhibitor auf ihn schoss. Seine Gedanken fielen in Dunkelheit und fanden dort, von den Fesseln der Rüstung befreit, Bilder der Vergangenheit.
INTERLUDIUM
Vergangene Pfade
»Manchmal sind es die Pfade der Vergangenheit, die in die Zukunft führen. Und manchmal sind es die Fesseln der Vergangenheit, die uns in der Gegenwart festhalten.«
So sprach Geraldo Dekener Skafec, Vorsitzender des Gründungsrats der Ägide,
als Erster Gesandter bei den Hohen Mächten akkreditiert, heute Ehrenmitglied
des Kuratoriums und einer der Unsterblichen, zum Missionarsschüler Lidder,
als jener mit 17 Jahren nach dem Weg in die Zukunft fragte.
Auch in die allergröbsten Lügen
Mischt oft ein Schein von Wahrheit sich.
Gestern, vor hundert Jahren
21
Die ersten beiden Stunden an diesem Vormittag waren pure Langeweile, und Rahil, inzwischen dreizehn Jahre alt, verbrachte sie zum größten Teil damit, aus dem Fenster zu schauen. Die von den Großen Familien für ihre Kinder eingerichtete Schule befand sich am Hang eines von insgesamt elf Hügeln, auf deren Kuppen sich die Familienburgen erhoben, unter ihnen auch die Zitadelle der Tennerits. Im Tal breitete sich die Stadt Dymke aus, viel größer als Meemken, eine urbane Landschaft in graubraunen Tönen, halb verhüllt von Regen und niedrig hängenden Wolken, wie gefangen zwischen den Hügeln. Rahil hätte gern an einem Fenster gesessen, um den Regentropfen an der Scheibe mit dem Zeigefinger zu folgen, so wie Jazmine es vor zwei Jahren getan hatte, in der kleinen Wohnung am Hafen von Meemken, bevor Ruben und Darel den Zauber jenes Nachmittages zerstört hatten. Doch dort saß nur Dillon, »dicker Di« genannt, mit einem anzüglichen Grinsen in seinem feisten Gesicht, als wüsste er, dass er den Platz einnahm, den Rahil sich wünschte, und als
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