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Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brandhorst
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nächste Mal erwachte, gelang es ihm, die Augen zu öffnen, doch um ihn herum blieb es so dunkel, dass er eine Hand zu den Augen hob, um festzustellen, ob sie auch wirklich offen waren. Nach und nach lösten sich einige der Schatten auf, vertrieben vom Licht, das durch eine schmale Lücke zwischen den zugezogenen Vorhängen fiel, und in diesem matten Schein sah er eine Silhouette. Rahil erschrak nicht – die Mattigkeit, die ihn vor dem Schmerz in der Brust schützte, hielt auch Furcht von ihm fern; er fühlte nur vage Neugier.
    »Wer bist du?«, flüsterte er.
    Die Gestalt bewegte sich, mehr erschrocken als er, und trat ins blasse Licht: eine Frau, gekleidet in ein Gewand, das in der Dunkelheit ohne Farbe blieb und bis zum Boden reichte. Dichtes Haar fiel auf schmale Schultern.
    »Ich bin’s, Rahil, deine Mutter.«
    Sie kam noch etwas näher, blieb aber so weit vom Bett entfernt stehen, dass sie ihn nicht einmal mit ausgestreckter Hand berühren konnte. Rahil fragte sich, wie lange er seine Mutter nicht mehr gesehen hatte. Tage bestimmt, vielleicht sogar Wochen. Er erinnerte sich nicht genau, und das beschämte ihn ein wenig. Er schloss die Augen, um etwas Kraft zu schöpfen, denn er wollte seiner Mutter sagen, dass sie ruhig näher kommen und ihm die Hand auf die Schulter legen konnte, so wie es Emily getan hatte. Doch als er die Lider wieder hob, war Vivienne Guandique Belidor nicht mehr da, und er dachte, dass er vielleicht nur geträumt hatte, dass seine Mutter gar nicht wirklich bei ihm gewesen war.
    Jazmine fiel ihm ein. Jazmine, die so gern den Würfel mit den vielen Bildern betrachtet hatte. Während Rahil in der Dunkelheit lag, die Augen offen und auf den Spalt zwischen den Vorhängen gerichtet, aus dem das Licht des Gasriesen Cambronne kam, stellte er sich vor, dass Jazmine so werden könnte wie ihre Mutter. Er stellte sich vor, wie auch sie eines Tages in einem dunklen Zimmer stand und sich davor fürchtete, den eigenen Sohn zu berühren.
    Wir müssen fort von hier, dachte er. Wir müssen weg, bevor sich die Schatten ganz um uns schließen und nie wieder loslassen. Wir müssen weg, Jazmine, bevor du so wirst wie unsere Mutter und ich wie unser Vater.
    Es waren große Gedanken, die durch einen kleinen Kopf gingen, den eines Kindes, aber sie fanden trotzdem Platz darin, schlugen Wurzeln und warteten auf Reife.
    »Hier können wir nicht bleiben, Jaz«, sagte Rahil, als er mit Jazmine allein war. Die Krankenpflegerin, die ihn zu seiner Schwester gebracht hatte, war gegangen, und endlich waren sie zusammen und allein, zumindest in diesem Zimmer. Draußen im Flur standen zwei von Rubens Wächtern, aber ihre Ohren reichten nicht so weit. Er sprach trotzdem leise, für den Fall, dass sie besser hörten, als er vermutete. »Wir müssen weg.«
    »Weg wohin?«, fragte Jazmine. Sie saß auf dem Bett, im durchs Fenster fallenden Sonnenschein, beide Hände an ihrem langen schwarzen Zopf, als brauchte sie etwas, woran sie sich festhalten konnte.
    Rahil trat ans Fenster und sah auf die Stadt Dymke hinab, die jetzt nicht mehr grau in grau zwischen den Hügeln lag, in Regen und niedrige Wolken gehüllt. Die zentralen Bereiche, bis hin zum Hafen mit seinen Frachtern, Transportern und Kränen, zeigten bunte Dächer mit verzierten Giebeln, und zwischen ihnen erstreckten sich breite Straßen, über die zahlreiche Fahrzeuge rollten, und von hohen Bäumen gesäumte Wandelalleen, auf denen Hunderte von Menschen unterwegs waren und den warmen Sonnenschein genossen. Zum Rand hin, nach Norden, wurden die Gebäude kleiner und primitiver, und sie verloren ihre Farben. Dort blieb das Leben grau, auch wenn die Sonne schien. Es waren die Unterkünfte der Arbeiter, die sich in den neuen Industriegebieten im Nordwesten, über denen immer eine dichte Dunstglocke hing, ihren Lebensunterhalt ver dienten, und der Feldknechte, die durch Verträge an die Farmen und Gehöfte im Westen gebunden waren. In Meemken gab es ähnliche Viertel, wenn auch viel kleiner, und Rahil erinnerte sich daran, dass Emily ihnen damals eins gezeigt hatte. Ihr Vater hatte nichts davon erfahren; es war ihr Geheimnis geblieben.
    »Weißt du noch, als uns Emily die Arbeiter und Knechte von Meemken gezeigt hat?«, fragte Rahil. Er sprach noch immer leise, damit ihn die Leibwächter vor der Tür nicht hörten. »Erinnerst du dich an ihre Hütten und die Felder mit der Vulkanasche?«
    »Willst du dorthin ?«, fragte Jazmine verwundert.
    Rahil lächelte, aber es war ein

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