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Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brandhorst
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schmerzhaftes Lächeln. »Nein. Dies alles ist nicht richtig. Ich glaube, das wollte uns Emily damals sagen, Jaz. Die Arbeiter, die in solchen Hütten hausen müssen, die Knechte, die auf den Aschefeldern schuften … In der Ägide braucht niemand zu arbeiten. Dort geht es allen besser. In der Ägide gibt es Fabriken, die selbstständig alles herstellen, was die Menschen brauchen, und was sie produzieren wird gerecht verteilt. Du hast die Bilder gesehen, erinnerst du dich?«
    »Willst du deshalb weg?«, fragte Jazmine.
    Es war einer der Gründe, aber nicht der Hauptgrund. Zumindest nicht dafür, dass er hier und jetzt mit seiner Schwester darüber sprach.
    »Nein«, sagte Rahil. »Ich will weg, weil das, was in der Schule geschehen ist, noch einmal passieren könnte.«
    »Vater hat gesagt, dass sich so etwas nie, nie wiederholen wird.« Jazmine sprang vom Bett und kam zum Fenster. »Nie«, betonte sie noch einmal.
    Rahil dachte an das, was er inzwischen wusste. Seine Augen und Ohren sahen und hörten mehr, als so mancher der Erwachsenen glaubte; er war immer sehr aufmerksam gewesen und auch neugierig. Schon vor Monaten hatte er begonnen, die Zusammenhänge besser zu verstehen.
    »Unser Vater und seine Leute können nicht immer bei uns sein.« Er sprach so leise, dass es fast ein Flüstern war. »Sie können uns nicht immer beschützen. Die anderen Großen Familien, insbesondere die Joulwan … Sie mögen uns nicht, Jaz. Irgendwann schicken sie wieder jemanden, der uns töten soll, oder sie verstecken eine Bombe, oder …«
    »Willst du mir Angst machen, Rahil?«
    Er legte seiner Schwester den Arm um die Schultern. »Nein, Jaz. Es ist nur … Wir sind in etwas hineingeboren, das mir nicht gefällt.« Hinter diesen wahren Worten steckte eine noch viel größere Wahrheit, die Rahil erst erahnte. Sie ragte drohend vor ihm auf, wie ein dunkler Berg, den er nicht ersteigen wollte.
    »Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist, Rahil«, sagte Jazmine.
    Er lächelte, diesmal ohne Schmerz. »Ich auch!«
    Doch Jazmine blieb ernst. »Du hast recht, Rahil. Was die anderen Familien angeht, meine ich. Und deshalb können wir nicht weg. Wir müssen auch an Vater und Mutter denken. Sie brauchen unseren Schutz.«
    Rahil sah auf seine Schwester hinab, die noch immer mit beiden Händen ihren Zopf hielt. Sie schaute aus dem Fenster, aber ihr Blick galt nicht Dymke, sondern dem Gasriesen Cambronne, der den größten Teil des Himmels einnahm. Fünf andere Welten des Dutzends waren zu sehen, Monde eines Giganten und doch so groß wie Planeten. Bei zwei von ihnen war ihre orbitale Bewegung deutlich zu erkennen: Sie krochen über Cambronnes braunes Äquatorband.
    » Wir müssen unsere Eltern schützen?«, fragte Rahil überrascht.
    »Wenn wir größer sind. Wenn Vater und Mutter alt werden. Wir müssen ihnen helfen, damit die anderen Familien uns nicht besiegen und zurückschicken nach Meemken oder an einen noch schlimmeren Ort.«
    Wind schien durchs geschlossene Fenster zu kommen, kalter Wind, und Rahil erzitterte, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Er erzitterte tief in seinem Innern, denn ihm wurde plötzlich klar, dass die Zeit drängte. Jazmine war sieben gewesen, als sie Emilys Würfel in der Hand gehalten und die knisternden Bilder bestaunt hatte, und ihre Erinnerungen daran verblassten. Sie verloren ihre Farben, den Zauber von einst. Und sie ließ sich von ihrem Vater beeinflussen, der ihr gegenüber immer genau den richtigen Ton fand. Rahil war dreizehn, kein Kind mehr und noch kein Mann, dazu imstande, in das neue Land zu blicken, das sich vor ihm erstreckte, in die Welt der Erwachsenen, und was er dort sah, erschreckte ihn. Es war eine düstere Welt, die da vor ihm lag. Es gab nur wenig Licht in ihr, und oft fiel es auf Blut und Leid, auf Schmerz und Tod. Noch waren sie beide Opfer, Jazmine und er, aber wenn sie zu lange warteten, wurden sie vielleicht zu Tätern, ob sie wollten oder nicht.
    Rahil strich seiner Schwester übers schwarze Haar und fragte sich, wie er sie überzeugen und dazu bringen konnte, mit ihm zu gehen. Er hätte ihr sagen können, dass Ruben und die anderen Mörder waren, dass sie Leben auslöschten, wenn Coltan Jaqiello Tennerit es ihnen befahl, und er befahl es ihnen oft, weil es Konkurrenten auszuschalten galt, Rivalen und unbequeme Leute, die zu viel wussten. Er hätte ihr sagen können, dass er die Räte und Komitees in Dymke bestach, mit dem Geld seiner illegalen Geschäfte, die dann durch neue Gesetze

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