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Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brandhorst
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legalisiert wurden. Er hätte ihr sagen können, dass sich ihr Vater nicht um Recht und Gerechtigkeit scherte, dass er mit den anderen Großen Familien um Dominanz über das Dutzend rang und zu ebenjenen Menschen zählte, die die Ägide als Grund dafür nannte, warum sie den Gefallenen Welten keine moderne Technik zur Verfügung stellte. Ihr Vater, so hätte er sagen können, verkörperte das, was Emily einmal »Regression« genannt hatte. Er hielt die Tür für den Fortschritt nicht nur geschlossen, sondern stattete sie außerdem mit zusätzlichen Schlössern und Riegeln aus, damit niemand sie öffnen konnte. Aber Jazmines Geist weilte noch ganz in der Welt des Kindes, obwohl ihr Körper sich zu entwickeln begann, und Rahil fürchtete, dass sie solche Dinge nicht verstand oder nicht aus der richtigen Perspektive sah. Wie sollte er sie davon überzeugen, dass es richtig war, Caina und das Dutzend zu verlassen?
    »Glaubst du, dass sie eines Tages zurückkehrt?«, fragte Jazmine.
    Rahil hatte, in Gedanken versunken, ein Flugzeug beobachtet, das mit brummenden Motoren über die Stadt hinwegglitt; der Sonnenschein spiegelte sich auf den doppelten silbernen Tragflächen.
    »Wen meinst du?«
    »Emily«, sagte Jazmine. Sie drehte den Kopf und sah zu ihm hoch. »Glaubst du, sie kehrt irgendwann zurück?«
    Emily, dachte er.
    »Ich weiß nicht«, sagte er. »Vielleicht.«
    22
    Die Zitadelle der Tennerits war nicht die größte der elf Familienburgen auf den Hügeln von Dymke, aber die älteste. Teile davon sollten fast viertausend Jahre alt sein und damit bis in die Zeit der Besiedlung des Dutzends zurückreichen. Auch während der ersten Wochen nach seiner Genesung durfte Rahil die Zitadelle nicht verlassen, denn Coltan und Vivienne fürchteten um seine Sicherheit. Er erhielt Privatunterricht, manchmal zusammen mit Jazmine, aber die Nachmittage und frühen Abende waren lang, und um der Langeweile zu entfliehen, begann er damit, Streifzüge zu unternehmen. Er stellte sich vor, dass es verborgene Schätze in der Zitadelle gab, versteckt vielleicht in den Kellergeschossen, hinter bröckelndem Mauerwerk und dicken Türen aus altem Holz. Es war eine dunkle, fremde Welt, in die seine Laterne nur für kurze Zeit Licht brachte, und Rahils Phantasie bevölkerte sie mit Geschöpfen, wie er sie in den Bildern von Emilys Würfel gesehen hatte. Manchmal fürchtete er sich, wenn steile Treppen in dunkle Tiefen führten und er das Gefühl bekam, an Mauern vorbeizuschleichen, die seit vierzig Jahrhunderten kein Geräusch gehört hatten. Einmal fand er ein im Boden eingelassenes Gitter, das Metall schwarz wie die Tiefe darunter, und als er einen Stein in jene Schwärze fallen ließ, hörte er nicht einmal einen Aufprall. Daraufhin wich er von dem Gitter zurück und hielt sich auch von den anderen beiden fern, die er tags darauf fand; die schrecklich tiefe Finsternis darunter erschien ihm zu bedrohlich.
    Er erzählte niemandem von seinen Ausflügen, nicht einmal Jazmine, die einmal fragte, wo er gewesen war, weil sie ihn nachmittags nicht in seinem Zimmer angetroffen hatte. Die Tunnel und verborgenen Räume der Zitadelle wurden zu seinem Rückzugsort, wo er träumen und nachdenken konnte. Er suchte nach Antworten, ohne die Fragen zu kennen, aber die Dunkelheit hinter dem engen Lichtkreis seiner Laterne blieb stumm.
    Bis er am Ende der vierten Woche nach seiner Genesung Stimmen hörte.
    Im westlichen Teil der Zitadelle hatte er oberhalb der Kellergewölbe einen besonders kleinen Tunnel gefunden, so niedrig, dass er nur gebückt in ihm gehen konnte, und als er nach einigen Dutzend Metern an einer Abzweigung verharrte, kam ein Flüstern aus der Finsternis.
    Geister, dachte Rahil und erstarrte. Phantome. Die Seelen von Menschen, die vor vier Jahrtausenden in diesen Gemäuern gestorben waren, vielleicht als Opfer schrecklicher Folter, und nie Ruhe gefunden hatten.
    Aber es waren die Gedanken eines Kindes, die ihm da durch den Kopf gingen, und er schob sie beiseite, und kroch, nach kurzem Zögern, weiter durch den Tunnel, aus dem das Flüstern kam. Nach einigen Metern wich die Mauer rechts ein wenig zurück, und Rahil drehte den Docht der Laterne herunter, als sich die Finsternis vor ihm in dunkles Grau verwandelte. Etwas Licht, blass wie ein Wintertag im Norden, filterte durch den Schmutz, der eine dicke, vielleicht viele Jahrhunderte alte Kruste auf einem kleinen Fenster dicht über dem Boden bildete. Zwei Stimmen erklangen dahinter, gedämpft,

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