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Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brandhorst
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Westen, die sich über fast zweitausend Kilometer erstreckte, und im Herbst, wenn der Passat drehte, fegten Stürme über das weite Ödland und trugen den Sand nach Dymke und weit übers Meer.
    Der Sandsturm machte die Flucht leichter, weil sie weder die Tücher vor den Gesichtern noch die langen Mäntel erklären mussten, und weil bei diesem Wetter nur die Leute in der Stadt unterwegs waren, denen keine Wahl blieb.
    In einer Nische an einer fast windstillen Ecke blieben sie stehen, um Luft zu schnappen. Ein Transporter brummte und schaukelte an ihnen vor, beladen mit Frachtgut von den Fabriken. Inzwischen hatten sie den Stadtrand erreicht. Im Norden erstreckten sich die Quartiere der Arbeiter und Feldknechte, kleine Häuser und Hütten, wie geduckt im Wind; im Westen, hinter den Hügeln und Felswällen – Überbleibsel einer alten Mauer, die vor Jahrtausenden als Schutz vor dem Passat gebaut worden war – lag die Wüste. Und dort, in einer Mulde, gab es etwas, das es auf Caina eigentlich nicht geben sollte: ein Hightech-Raumschiff. Das Schiff, mit dem Duartes gekommen war.
    »Mir ist schlecht«, sagte Jazmine mit gedämpfter Stimme. Das Tuch vor dem Gesicht ließ nur die Augen frei.
    »Bestimmt liegt es an der Aufregung«, erwiderte Rahil. Seit drei Stunden waren sie unterwegs, und Jazmine hatte ständig befürchtet, dass jemand sie erkannte. »Es ist nicht mehr weit.«
    »Wir könnten noch zur Botschaft«, sagte Jazmine »Vielleicht hilft man uns dort weiter.«
    Rahil zog sein Tuch nach unten, obwohl auf der anderen Straßenseite einige Arbeiter unterwegs waren. Selbst wenn sie den Sohn des Patrons der Tennerits kannten – Rahil trug die Maske, die aus dem geheimen Zimmer seines Vaters stammte. Es war erstaunlich, wie wenig davon er nach dem anfänglichen Prickeln spürte. Sein Gesicht fühlte sich normal an, aber er wusste: Ein Blick in den Spiegel hätte ihm eine ganz andere Person gezeigt, einen Jungen mit gröberen Zügen und dunkleren Augen. Vor einigen Monaten, bei der Entdeckung der Maske, hatte er sich gefragt, wie sie es anstellte. Irgendwie schien sie auf die Wünsche des Trägers zu reagieren. Vor einem reflektierenden Stück Glas hatte Rahil die Maske mehrmals aufgesetzt und abgenommen, und jedes Mal hatte ihm das Glas ein anderes Gesicht gezeigt, das sich veränderte, wenn er an bestimmte Personen dachte. Er hatte herausgefunden, dass sich ihre Struktur nur zu Anfang beeinflussen ließ, unmittelbar nach dem Aufsetzen. Anschließend blieb die Maske stabil, bis er sie wieder absetzte.
    Der Wind legte eine Pause ein, wie um Atem zu holen, und Rahil sagte: »In der Botschaft der Ägide würde man uns fragen, wer unsere Eltern sind, Jaz. Wir müssten uns zu erkennen geben, und man würde unseren Vater verständigen.« Rahil fragte sich kurz, warum er nicht »unsere Eltern« sagte. »Und Coltan würde Druck ausüben und die Botschaft zwingen, uns auszuliefern.«
    Ein weiterer Transporter rollte an ihnen vorbei, in einer Wolke aus Staub und Sand. Als sein Brummen im Zischen des Windes verschwand, sagte Jazmine: »Ich habe mit Mutter gesprochen.«
    Rahil sah seine Schwester fragend an. Ihr schwarzer Zopf ragte unter der Kapuze hervor.
    »Ich habe sie gefragt, ob Vater Emily umgebracht hat«, sagte Jazmine.
    Rahil erstarrte innerlich. Er hatte die Tür mit einer Lüge geöffnet; die Wahrheit konnte sie wieder zustoßen.
    »Sie wusste nicht einmal, wer Emily war«, fügte Jazmine traurig hinzu. »Sie hat sich überhaupt nicht an sie erinnert.«
    Emilys Gesicht stand deutlich vor Rahils innerem Auge, mit ihren Sommersprossen und dem freundlichen Lächeln. Er spürte sogar ihre Hand, nicht tonnenschwer wie die seines Vaters, sondern leicht wie eine Feder, und angenehm. Als er versuchte, das Gesicht von Vivienne Guandique Belidor aus seiner Erinnerung zu rufen, blieb es farblos und fremd: eine Frau, die in seinem Leben kaum eine Rolle gespielt hatte, abgesehen davon, dass er aus ihrem Schoß geschlüpft war. Unsere Erinnerungen entscheiden für uns, dachte Rahil. Sie lassen fallen, was keine Rolle für uns spielt.
    »Komm, Jaz.« Rahil zog das Tuch wieder vors Gesicht, um beim Atmen nicht zu viel Sand in Mund und Nase zu bekommen. »Wenn wir uns nicht beeilen, startet Duartes ohne uns.«
    Sie traten aus der Nische, eilten nach Westen und folgten dem Verlauf eines Wegs, der an den letzten Gebäuden vorbeiführte, und dann weiter zu den Resten der alten Mauer und den Hügeln. Der Wind rauschte in den Wipfeln der

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