Artefakt
hinter diesen schwarzen Kalkstein sehen?«
»Ich versuche es. Die Perspektive ist ungünstig… vielleicht kann ich die Röhre noch ein Stück hineinschieben.«
In der Dunkelheit wirkten die beiden kauernden Gestalten geisterhaft. Licht drang aus der schmalen Öffnung und warf riesige Schatten, die bei jeder Bewegung über die gekrümmten Wände des Kuppelgrabens taumelten, um sich in der tintigen Schwärze höher oben zu verlieren.
»So. Wenn ich es jetzt noch in die richtige Position drehen kann…« Ihre etwas gepreßte Stimme hallte von den Wänden wider, die dem Klang eine beinahe metallische Note verliehen. »Der Stein endet. Markierungen kann ich aus dieser Perspektive nicht erkennen. Jedenfalls hat er eine flache Rückseite.«
»Ist etwas dahinter?«
»Offener Hohlraum.«
»Wie groß?«
»Nicht zu erkennen.«
»Dann muß er wenigstens einen halben Meter oder mehr haben.«
»Wahrscheinlich Wassererosion. Hier, sieh selbst!«
Als George das Auge am Okular hatte, drehte er die Röhre hierhin und dorthin und pfiff leise durch die Zähne. »Ein ziemlich großer Block. Er scheint rückseitig freizuliegen.«
Er studierte ihn noch eine kleine Weile, dann richtete er sich auf. Claire erwiderte sein Lächeln. »Entschieden seltsam, Watson«, sagte sie.
»Ein guter Fund, nicht?«
»Kein mykenisches Grab hat eine falsche Wand wie dieses. Von diesem Bernsteinzapfen ganz zu schweigen. Eine echte Erstentdeckung.«
3
Auch am nächsten Tag ließen die griechischen Arbeiter sich nicht blicken.
Das wäre ein ernstes Problem gewesen, wenn es sich während der eigentlichen Ausgrabungsarbeiten ereignet hätte. Nun, nach Abschluß der Grabungen, war es nur lästig. Niemand hatte weitere wichtige Funde erwartet, sonst wäre Direktor Hampton an Ort und Stelle geblieben und hätte einen der Assistenten nach Boston zurückfliegen und dort seine Vorlesungen übernehmen lassen, da das Semester inzwischen begonnen hatte.
Claire war ursprünglich nur geblieben, um ihre Analyse der aufgefundenen Töpferwaren zu beenden. Als dienstälteste amerikanische Wissenschaftlerin mußte sie mit den Griechen zusammen die, Inventur fertigstellen, die Verpackung und den Versand der Fundstücke überwachen und das Grab verschließen, um es vor Vandalismus zu schützen.
Sie und George waren als einzige, die zu Ausgrabungsarbeiten qualifiziert waren, im Lager zurückgeblieben. Ursprünglich hatte Kontos diese letzte Phase leiten sollen, doch hatte er seit Ende Juni die meiste Zeit in Athen verbracht. Durch seine Abwesenheit waren die Amerikaner weitgehend auf sich selbst gestellt, sah man von dem Verwalter des Lagers und einer Frau aus dem Dorf ab, die im Küchenzelt ihres Amtes waltete.
Claire räumte widerwillig ein, daß Georges Verstrebungen in der Wand des Kuppelgrabes wahrscheinlich ausreichten. Dennoch verstärkten sie seinen Rahmen in der Öffnung und untersuchten die herausgenommene Steinplatte.
Bis auf die sorgfältig eingemeißelten konzentrischen Kreise war sie ohne Besonderheit, doch stellten diese Kreise das einzige Schmuckwerk im gesamten Innern des Kuppelgrabes dar. Auch hier waren Meißelspuren an den Rändern zu erkennen, und der Mörtel war teilweise abgefallen. George trug die Überlegung vor, daß diese Zeichen möglicherweise auf mißlungene Bemühungen von Grabräubern zurückgingen, die Platte herauszuziehen. Im ersten Jahrhundert nach dem Begräbnis mußte der Mörtel hart und zäh genug gewesen sein, um mehr oder weniger flüchtigen Anstrengungen zu widerstehen.
Mykenische Gräber waren nüchtern und schmucklos, Bauwerke eines Volkes, das niemals Überfluß gekannt hatte. Sie waren Weiterentwicklungen der seit dem dritten vorchristlichen Jahrtausend auf Kreta und den Kykladen beheimateten Tholosgräber, kreisrunden Grabkammern mit Mauergewölben oder Holzdecken.
Die Griechen der mykenischen Zeit errichteten sie, indem sie die Baugrube mit Steinquadern kreisförmig auskleideten, wobei jede Lage ein wenig über die darunterliegende vorragte, so daß schließlich eine Kuppel entstand, die entweder ganz in den Hang eingebettet war oder über ihn hinausragte. Die Kuppelgräber wurden gewöhnlich mit Erdhügeln bedeckt, die im Laufe der Zeit mit dem umgebenden Hügelgelände verschmolzen und die Auffindung der Gräber erschwerten. Während der Blütezeit der mykenischen Kultur, welche aus Gründen, die bis heute unbekannt und Gegenstand vieler Vermutungen und Diskussionen sind, unvermittelt zu einem
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