Artefakt
Zentrum von Macht und Reichtum wurde, gewannen die Kuppelgräber immer größere Dimensionen und erhielten einen Zugang (Dromos) in Gestalt eines oben offenen Korridors, der den Grabhügel anschnitt und in Einzelfällen Längen bis zu dreißig Metern und darüber aufwies. Diese Zugänge blieben während der Regierungszeit der jeweiligen Dynastie möglicherweise offen, weil das Kuppelgrab für aufeinanderfolgende Begräbnisse wiederholt benutzt wurde.
Die in den Stein gemeißelten Ringe hatten Claire ursprünglich zu der Vermutung geführt, daß sie einen in die Wand eingelassenen Begräbnisplatz markierten. Der Gedanke war ihr selbst nicht recht geheuer gewesen, weil die mykenischen Griechen ihre Schachtgräber gewöhnlich offen in der Grabkammer angelegt hatten. Es bestand keine Verwandtschaft mit den schlauen Bemühungen der ägyptischen Pyramidenerbauer, die tote Stollen, Fallen, falsche Begräbniskammern und andere Täuschungsmittel anwendeten, um Grabräuber irrezuführen. Die Herren der mykenischen Welt erwarteten nicht, daß jemand sich jemals an ihren Gräbern vergreifen werde. Claire fand dieses Zeichen argloser Unschuld reizend. Dieses vor langer Zeit untergegangene Volk hatte mit einer wuchtigen Einfachheit gebaut und seine unterirdischen Kuppeln mit einer Genauigkeit und Massivität berechnet und errichtet, der in den meisten Fällen nicht einmal 3500 Jahre Verwitterung, Wassererosion und Erdbeben etwas hatten anhaben können.
Die schwache Stelle eines Kuppelgrabes war gewöhnlich der Scheitelpunkt der Kuppel. Wenn dieser brüchig wurde und einstürzte, entstand ein Loch, das ein vorbeiziehender Hirte früher oder später bemerkte. So kam es, daß die meisten der bekannten Gräber ausgeraubt wurden, lange bevor es eine neuzeitliche Archäologie gab.
Dieses Grab war ein typischer Fall, obwohl es eine ungewöhnlich reiche Ausbeute ergeben hatte. Ein Bewohner der nahen Kleinstadt Salandi hatte das Ministerium für Altertümer und Restauration angerufen und von einem Loch berichtet, das in einem Hügel über der Küste und ungefähr zehn Kilometer außerhalb der Stadt entdeckt worden sei. Er habe in einem Cafe davon gehört.
Grabräuber waren schon vor langer Zeit dagewesen. Kuppelgräber waren in mykenischer Zeit den Königen und adligen Herren vorbehalten geblieben, und die darauf folgenden Generationen hatten es noch gewußt; wenige waren ungeöffnet geblieben. Hier hatten die Grabräuber Urnen und Schachtgräber aufgebrochen und den größten Teil der Beigaben verstreut und zerschlagen. Es war kein Goldschmuck übriggeblieben, keine Wertgegenstände, nichts, was sich rasch zu Geld machen ließ.
Reisende erinnerten sich vor allem solcher Wertgegenstände wie der berühmten Goldmaske des Agamemmnon, die von Schliemann irrtümlich so gedeutet worden war, als er sie im Gräberkreis des Palastes von Mykene entdeckte. Sie war herrlich, ein prachtvolles Stück, und verriet viel über das Leben der Herrscher jener Zeiten. Archäologen aber sind gleichermaßen an Fundstücken interessiert, die Einblick in das Alltagsleben gewähren, und in dieser Hinsicht war das Grab eine gute Fundstelle. Die pflichtschuldigen Diener der toten Herren hatten ihnen als Grabbeigaben Werkzeuge, Siegelsteine, Dolche, bronzene Kurzschwerter, Gebrauchsgegenstände, Keramikgefäße, Spiegel, Kämme, Sandalen auf die lange Reise mitgegeben – alles, was sie benötigen würden, um im Jenseits einen Haushalt zu gründen.
Die Gebeine der Bestatteten waren achtlos durcheinandergeworfen worden, als die Grabräuber auf der Suche nach Schmuck und Juwelen die zerfallenden Gewänder auseinandergerissen hatten. Die sterblichen Überreste wurden zu gleichen Teilen den Laboratorien in Athen und an der Universität Boston übergeben, wo sie eingehenderer Untersuchung harrten. Die Gebeine gehörten zu mehreren Skeletten, die alle auf der selben Ebene gefunden worden waren. Dies konnte bedeuten, daß die mykenischen Herren dieses Ortes das Grab mehrere Generationen hindurch verwendet hatten, oder daß mehrere Familienmitglieder gleichzeitig dort bestattet worden waren, oder sogar, daß Schäfer nach dem Einsturz des Schlußsteines durch das Loch gefallen und hier unten elend umgekommen worden waren.
Kleinere Gegenstände – Keramikscherben, kleine Teile von Schmuckstücken, Amethystperlen – fand man begraben unter den herabgefallenen Steinen und den Haufen nachgerutschter, mit Geröll vermischter Erde. Die Plünderer hatten sich
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