Artefakt
durchgekommen – sie werden es in zwei Staaten aufteilen.«
»Verrückt! Alles wegen der Wasserrechte?«
»Die Ökoleute gegen die Großverbraucher: Städte und Farmer.«
»Und wir finden die Griechen aufsässig.«
»Du hättest den Blick sehen sollen, den der Ladenbesitzer mir dabei zuwarf, als ich hineinging und die Zeitung kaufte.«
»Das kann man verstehen. Eine gutaussehende alleinstehende Frau in einer Kleinstadt. Da wird er nicht der einzige gewesen sein.«
Sie schüttelte unwillig den Kopf und ignorierte wie gewöhnlich das Kompliment. »Es war nicht solch ein Blick. Er war feindselig.«
»Ach so. Trotzdem, zur Abstützung der Wand brauche ich Hilfe, es ist…«
»Ich werde dir helfen. Komm mit!«
Sie entfernten zuerst den unteren Steinquader. Es war die weniger gefährliche Operation, da er augenscheinlich keine tragende Funktion im Gesamtverbund hatte. Sie zogen ihn mühsam aus der Wand und legten den unteren Teil des schwarzen Felsblocks frei. In die Basis war eine einzelne gerade Linie gemeißelt.
»Komisch«, sagte George. »Eine Bedeutung ist darin nicht zu erkennen.«
»Vielleicht handelt es sich bloß um eine Markierung, daß diese Seite unten ist.«
»Kann sein. Nicht jedes Zeichen muß bedeutsam sein.« Er kauerte nieder und untersuchte die eingekerbte Linie im Licht seiner Handlampe. »Am Grund der Meißelspuren ist ein hellfarbener Staub zu erkennen.«
»Vielleicht ist es alte Farbe? Aber das herauszufinden, überlassen wir der chemischen Analyse.«
»Ja. Was nun?«
George wollte offenbar, daß die Verantwortung allein auf sie fiel. Nun, es war ihm nicht zu verdenken. Also: »Laß uns den oberen Quader herausnehmen!«
»Wie? Die ganze Wand könnte nachgeben und uns unter sich begraben.«
Sie schürzte die Lippen und überlegte. »Wir müssen die Öffnung durch einen Rahmen aus Streben sichern, der oben eine Steinlage über unserem Quader ansetzt. Dann ist dieser entlastet und kann mit einem Flaschenzug herausgezogen werden.«
George seufzte. »Um die Streben oben anzusetzen, muß die höhere Steinlage angebohrt und mit Stahlwinkeln abgefangen werden. Wenn wir warteten, bis wir mehr Hilfe bekommen, würde es bestimmt sicherer sein.«
»Und später. Vielleicht zu spät. Fangen wir an!«
Als der Steinquader Stunden später aus dem Mauerverbund herausgelöst war und in seiner Halterung aus Ketten und Seilen hing, stockte beiden der Atem.
»Das ist Linearschrift!« rief George.
»Auf Stein!« Claire starrte die drei freigelegten Zeilen mit Schriftsymbolen an. Die Zeichen waren mit dem Meißel in den Stein gehauen. »Niemand hat jemals mykenisch-kretische Linearschrift anders als auf Tontafeln gefunden.«
»Und sieh dir die eingemeißelten Zeichen an! Wie sie das Licht reflektieren.«
Claire duckte sich unter dem hängenden Steinquader und zog die Lampe näher. »In den Meißelspuren ist wieder dieser hellfarbene Staub. Er hat noch ein feuchtes, glänzendes Aussehen.«
Nachdem der obere Quader entfernt war, kam die volle Größe des Kalksteinblocks erst gebührend zur Geltung. Er hatte eine Kantenlänge von mehr als einem Meter. Ein muffiger Geruch drang aus der Öffnung, der Geruch feuchter Erde, die seit Jahrtausenden nicht mit offener Luft in Berührung gekommen war. Claire rümpfte die Nase. Sie verband diesen schweren, moderigen Geruch immer mit einem Grab in Messenien, an dessen Öffnung sie teilgenommen hatte. Nach zweitausend Jahren hatten den Gebeinen des Toten noch faserige, vertrocknete Reste von Fleisch angehaftet. Die Berührung mit der feuchten und warmen Luft hatte bereits nach kurzer Zeit einen Geruch entstehen lassen, der sie vertrieben hatte. Der Grabungsleiter hatte ihr Überempfindlichkeit vorgeworfen, aber hinterher hatte sie ihre Kleider verbrannt.
Hier war es nicht annähernd so schlimm. Der Geruch rührte von organischen Bodenbestandsteilen her, die nun an der Luftzirkulation teilnehmen konnten. Sie ermahnte sich, daß hinter den Blöcken der Wand kein Toter bestattet liegen konnte. Der Modergeruch würde sich nach einer Weile verflüchtigen. »Das – diese Schrift.«
»Muß Linear B sein. Du kennst sie, nicht?«
Claire runzelte die Stirn. »Die Zeichen ja, aber ich kann sie nicht lesen.«
Niemand hatte jemals Linear B auf etwas anderes als Tontafeln geschrieben gesehen, die für Abrechnungen verwendet wurden. Die ägäische Bronzezeit war in ihrem Schriftgebrauch nicht über die Aufzeichnung von Inventarlisten und Geschäftsvorgängen
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