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Artefakt

Artefakt

Titel: Artefakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory Benford
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Fremdartigkeit. Die attischen Wasserkrüge aus der Zeit um 500 v. Chr. waren großartig, in sich selbst ruhende Kunstwerke. Auf einem füllten weiße Frauen in schwarzen Gewändern ähnliche Krüge an einem dorischen Brunnenhaus. Wasser ergoß sich aus tönernen Tierköpfen; die Griechen brachten die Bewegungen der natürlichen Welt gewohnheitsmäßig mit Tieren in Verbindung. Hinter jeder Naturgewalt war eine Persönlichkeit, ein Tier oder ein Mensch, oder auch ein Zwitterwesen. In dem breiten Rand des Kruges, dem geschwungenen Handgriff, dem bauchigen Körper war eine subtile Sinnlichkeit.
    Der Krug hatte mehr als zweitausend Jahre in der Erde überdauert. Sie ging zum Höhepunkt der Sammlung, einer minoischen Schlangengöttin. Eine kleine Elfenbeinfrau mit einem nachdenklichen und abwesenden Gesichtsausdruck, die in jeder Hand eine Schlange hielt. Sie hatte 3500 Jahre lang im Staub von Knossos gelegen, und mit ihrer Ausgrabung war ihr Untergang besiegelt. Wer konnte glauben, daß sie weitere 3500 Jahre in Boston überleben würde? Hier war sie allen Zufälligkeiten ausgesetzt. Ein einstürzendes Dach, ein Brand, Krieg. Claire und andere wie sie zerstörten die Zeugen der Vergangenheit in dem Maße, wie sie sie der Vergessenheit entrissen, indem sie sie aus der sicheren Erde gruben und in den rauhen, gefahrvollen Lärm des Lebens zurückbrachten.
    Sie runzelte die Stirn. Solche skeptischen Gedanken über ihren Beruf waren ihr neu. Sicherlich waren Fachkollegen wie Kontos und Hampton geeignet, Zynismus wachzurufen, aber sie waren glücklicherweise wenige. Oder nahmen sie sich nur in den Augen einer ehrgeizigen Frau, die sich im entscheidenden Stadium ihrer akademischen Laufbahn befand und nach einer Professur strebte, so unangenehm aus? Vielleicht welkte in diesem Dampfkochtopf jeder ein wenig dahin.
    Im Hinausgehen kam sie an dem berühmten Torso des Königs Haker vorbei – die Hände an den Seiten geballt, muskulös, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, voll Willenskraft und Macht. Und kopflos, dachte sie ironisch; in vielen ihrer Phantasien kam ein gesichtsloser Mann mit einem ähnlichen Körper vor. Nun bemerkte sie jedoch häufig noch während des Traumes, daß es John war. Er hatte eine ruhige, verschlossene Kraft in sich. Die geballten, nicht mitteilsamen Hände waren das Gegenteil seiner ruhigen, breiten, sicheren.
    Sie gab sich einen Ruck und ging. Die anderen Vitrinen streifte sie nur mit einem Blick. Der Direktor war genau das Gegenstück zu John – einnehmend, lebhaft, bleistiftdünner Schnurrbart, so substantiell wie ein Schmetterling, voll von wirklich! wunderbar! aber natürlich! Seine Augen hatten hinter den großen Brillengläsern geglänzt, und Claire hatte ihm angesehen, wie sein beweglicher Geist die aufregende Möglichkeit einer Erstpräsentation erwogen hatte, mit prachtvoller Presseberichterstattung, anschließender Kontroverse und vielleicht einer Fernsehübertragung als Zuckerguß. Sie hatte auf diese Vermutung reagiert, indem sie sich noch seriöser gegeben und die »Notwendigkeit« hervorgehoben hatte, die »Streitfrage an die Öffentlichkeit zu bringen« und, selbstverständlich, das Artefakt selbst auszustellen, das ein bedeutendes Kunstwerk sei. Es war einfach gewesen. Sie war ein wenig bestürzt über die Entdeckung, daß selbst hier, in einer ihrer Lieblingsinstitutionen, Bedeutung und Publizität heillos miteinander verzahnt waren.
    Langsam fuhr sie den Fenway Drive die Küste der Back Bay entlang. Johns Voraussage hinsichtlich der Reaktion des Museumsdirektors war beunruhigend genau gewesen. Der Direktor hatte für Sonntagabend einen öffentlichen Vortrag angesetzt. Bis dahin war nicht viel Zeit für Werbung, aber die Größe des Publikums war auch ohne Bedeutung; wichtig war, daß ein Berichterstatter des Globe anwesend sein würde, und vielleicht jemand von der lokalen Fernsehstation. Jetzt war Freitagnachmittag, und sie mußte Diapositive vorbereiten und ihre Argumente formulieren. Wie die meisten Leute, fürchtete sie Auftritte an der Öffentlichkeit. Sie überlegte, ob die Jahre der Lehrtätigkeit auch ihr jene Unerschütterlichkeit verleihen würden, die andere Professoren wie ein Dienstabzeichen trugen. Dann fiel ihr mit einem jähen schmerzlichen Zusammenziehen des Magens ein, daß sie wahrscheinlich überhaupt keine Vorlesungen halten würde; dies war das Ende. Sie mochte hoffen, irgendwann einmal anderswo eine Professur zu erhalten, aber Boston bliebe ihr mit größter

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