Artefakt
Ich kenne nichts, was ein so hohes Energiespektrum ergibt.«
»Dann muß es falsch sein«, sagte Claire energisch.
Aber es war nicht falsch.
Die zweite, mit besonderer Sorgfalt kalibrierte Messung ergab identische Resultate. Der Ausfluß von Strahlung aus dem Block war noch nicht gefährlich, aber er zeigte keine der Spektrallinien, die natürliche Emissionen von Atomen kennzeichneten. Die Überprüfung und Einstellung erforderten zwei Tage ermüdender Sorgfalt.
»Sehen Sie, wie relativ homogen dieses Spektrum ist«, sagte Abe kritisch. »Vielleicht besteht es aus vielen Linien, die einander überlappen?«
»Das bedeutet, daß im Innern entweder viele radioaktive Isotopen sind, oder…« John verstummte grübelnd.
Abe lächelte. »Oder wir haben einen dummen Fehler gemacht.«
»Und die Strahlung«, fragte Claire, »dringt nur durch zwei Stellen ins Freie – den Zapfen und das Loch gegenüber?«
»So ist es. Die Quelle liegt tief im Innern des Steinblocks.« Abe dachte darüber nach. »Ich vermute, sie begruben etwas in der Mitte des Würfels.«
John nickte. »Aber was?«
»Moment«, sagte Claire. »Ich weiß, wir sind alle neugierig, aber wir müssen Schritt für Schritt vorgehen. Wir brauchen chemische Analysen des Gesteins, des Bernsteins in diesem Zapfen und von dem Material, das das Loch in der Rückseite verstopft.«
»Ich habe bereits mit Dunnsen vom Fachbereich Chemie das Nötige vereinbart«, sagte Abe nachsichtig. »Er hat Erfahrung, hat mit Watkins und Hampton an diesem Zinn und Zink aus Italien gearbeitet.«
»Wir müssen darauf bedacht sein, daß dem Artefakt minimaler Schaden zugefügt wird.«
Abe nickte energisch. »Wir können alles mit passiven Mitteln machen. Keine Beschädigungen.«
Claire nickte. »Gut. Erst wenn wir diese Ergebnisse haben, werden wir in der Lage sein, etwas Vernünftiges zu sagen.«
Intelligenz ist relativ. Sie hat ihre Vorurteile und ihre toten Winkel. John wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß zwei Zitadellen der Intelligenz, die er gut kannte – die Rice-Universität, wo er sich lange abgemüht und seine akademischen Sporen verdient hatte, und das Massachusetts Institue of Technology, das er zu einem wichtigen Sprungbrett seiner Berufslaufbahn zu machen hoffte –, von der Gesellschaft hauptsächlich als Fabriken angesehen wurden, die eine bestimmte Art von intelligenten Kobolden erzeugten, welche in der Lage waren, Maschinen zu verdrahten, Lösungen zu titrieren, Chips zu programmieren und die Räder der Industrie anzutreiben.
In ähnlicher Weise war Claire niemals einer Situation begegnet, wo eine sorgfältig ausgeführte Reihe intelligent ausgedachter Versuche die Zahl der Möglichkeiten nicht reduzierte, bis nur eine übrig blieb, und die geheimnisvolle, aus einer alten Grabung geborgene Substanz sich als eine seltene Legierung, eine Spur von Zerfallsprodukten oder ein ungewöhnlich zusammengesetztes Amalgam verschiedener Stoffe erwies. Abe Sprangle war ähnlich voreingenommen. Er hatte sich nie zuvor in einer Situation befunden, wo die aktive, emittierende Substanz unerreichbar war, so daß er sie nicht einmal sehen konnte.
»Diese Zusammensetzungsanalyse ergibt keinen Sinn«, meinte er frustriert. Dunnsen hatte sein Fachwissen aufgeboten und eine detaillierte Liste der Elemente zusammengestellt, die der Zapfen enthielt. Diese chemische Betrachtungsweise war in einer graphischen Darstellung von Verbindungen und Elementen ausgeführt, alle festgestellt durch verschiedene diagnostische Methoden, welche die Fähigkeit der Materie prüften, Licht von einer bestimmten Frequenz zu brechen, zurückzuwerfen oder zu absorbieren. »Dieses Zeug ist verdammt komisch.«
»Lassen Sie sehen!« Claire studierte die mit Kurven in Scharlachrot, Blau und Gelb bedeckten Blätter. Die Gipfel und Täler stellten unterschiedliche Mengen jedes vorhandenen Elements dar und glichen gezackten, vielfarbigen Zähnen. »Aktinium, Boron, Kalzium – lieber Himmel, das hat nichts mit Bernstein zu tun.«
»Was ist Bernstein tatsächlich?« fragte John.
»Baumharz, fossiles Baumharz«, erklärte Claire zerstreut. »Das Harz tropft zu Boden, sammelt sich dort an, und im Laufe der Zeit entweichen die flüchtigen Elemente, bis ein festes Material zurückbleibt.«
»Dann besteht Bernstein hauptsächlich aus Wasserstoff und Kohlenstoff, nicht wahr?« fragte John. Er hatte Chemie immer langweilig und unmöglich zu behalten gefunden. Es schien alles so verworren und kompliziert. Als
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