Artemis Fowl
glauben? Sie könnten mich ebenso gut in einen Hinterhalt führen. Meine Familie hat nicht nur Freunde.«
Butler fing mit bloßer Hand eine Mücke, die neben dem Ohr seines Herrn herumschwirrte.
»Nein, nein«, sagte Nguyen und griff nach seiner Brieftasche. »Hier, sehen Sie.«
Prüfend betrachtete Artemis das Polaroidfoto und zwang sein Herz, einen ruhigen Schlag beizubehalten. Es sah viel versprechend aus, aber heutzutage konnte man mithilfe eines Computers und eines Scanners alles Mögliche zustande bringen. Das Bild zeigte eine Hand, die aus einem dunklen Hintergrund hervorragte. Eine fleckige grüne Hand.
»Hmm«, murmelte er. »Ich höre.«
»Diese Frau, sie ist eine Heilerin, in der Nähe der Tu Do Street. Sie lässt sich mit Reiswein bezahlen und ist immer betrunken.«
Artemis nickte. Es passte. Das Trinken - eines der wenigen stets wiederkehrenden Fakten, auf die er bei seinen Forschungen gestoßen war. Er stand auf und strich die Falten seines weißen Polohemds glatt. »Gut. Wir folgen Ihnen, Mister Xuan.«
Nguyen wischte den Schweiß von seinem dünnen Schnurrbart. »Nur die Information. So war es abgemacht. Ich will keine Verwünschungen abbekommen.«
Mit geschicktem Griff packte Butler den Informanten am Genick. »Ich bedaure, Mister Xuan, aber Sie haben längst keine Wahl mehr.«
Butler bugsierte den protestierenden Vietnamesen zu einem gemieteten Geländewagen, der auf den ebenen Straßen von Ho Chi Minh City, oder Saigon, wie die Einheimischen die Stadt noch immer nannten, kaum nötig war, doch Artemis zog es vor, sich so weit wie möglich von den Passanten abzuschotten.
Der Wagen schob sich in einem unerträglich langsamen Tempo vorwärts, das für Artemis umso quälender war, als sich eine erwartungsvolle Spannung in ihm breit machte, die er nicht länger unterdrücken konnte. Waren sie nun endlich am Ziel ihrer Suche angekommen? War es möglich, dass nach sechs Fehlalarmen auf drei Kontinenten diese versoffene Heilerin das Gold am Ende des Regenbogens sein sollte? Beinahe hätte Artemis geschmunzelt. Gold am Ende des Regenbogens! Er hatte einen Scherz gemacht. Das kam nun wahrlich nicht jeden Tag vor.
Die Flut der Mopeds teilte sich wie ein riesiger Fischschwarm. Die Menschenmenge schien kein Ende zu nehmen. Selbst in den schmälsten Gassen wimmelte es von Händlern und Feilschenden. Köche warfen Fischköpfe in zischendes Öl, und kleine Straßenkinder schlängelten sich auf der Suche nach unbewachten Wertgegenständen zwischen den Beinen der Leute hindurch. Andere saßen im Schatten und drückten sich an ihren Gameboys die Daumen platt.
Nguyen war klatschnass geschwitzt. Es lag nicht an der Luftfeuchtigkeit; daran war er gewöhnt. Nein, es war diese ganze verdammte Situation. Er hätte niemals Magie und Verbrechen zusammenbringen dürfen. Wenn er hier lebend herauskam, würde er seine Taktik ändern, so viel stand fest. Nie wieder würde er auf irgendwelche dubiosen Anfragen im Internet antworten, und vor allem würde er sich nie wieder mit den Söhnen von europäischen Verbrecherkönigen einlassen.
Der Geländewagen kam nicht mehr weiter, da die Seitenstraßen zu schmal geworden waren. Artemis wandte sich zu Nguyen um. »Wie es scheint, müssen wir zu Fuß weitergehen, Mister Xuan. Sie können gerne weglaufen, doch dann sollten Sie mit einem heftigen und tödlichen Schmerz zwischen den Schulterblättern rechnen.«
Nguyen sah verstohlen zu Butler hinüber. Dessen Augen waren von einem dunklen Blau, fast schwarz, und es lag kein Funken Mitgefühl dann. »Keine Sorge«, sagte er. »Ich werde nicht weglaufen.«
Sie stiegen aus dem Wagen. Hunderte von misstrauischen Blicken folgten ihnen auf ihrem Weg durch die dampfende Gasse. Ein unglückseliger Taschendieb versuchte, Butler die Brieftasche zu stehlen. Der Diener brach ihm die Finger, ohne auch nur hinunterzusehen. Von da an wurde ihnen reichlich Platz gemacht.
Die Gasse verengte sich zu einem zerfurchten Pfad. Abflussrohre sprudelten ihren Inhalt direkt auf die schlammige Oberfläche. Krüppel und Bettler hockten auf kleinen Inseln aus Reismatten. Die meisten Menschen auf diesem Pfad besaßen nichts - mit Ausnahme von dreien.
»Nun?«, fragte Artemis. »Wo ist sie?«
Nguyen zeigte auf ein schwarzes Dreieck unterhalb einer verrosteten Feuerleiter. »Da. Da unten. Sie kommt nie heraus. Selbst wenn sie Reisschnaps braucht, schickt sie einen Botenjungen. Kann ich jetzt gehen?«
Artemis machte sich nicht die Mühe zu antworten.
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