Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
geschuldet ist, hat die Philosophie lange genug verwirrt und zu abenteuerlichen Erwägungen angetrieben. In der tierethischen und bioethischen Diskussion hat lange eine Auffassung dominiert, nach der die Tötung von Menschen, nicht aber von Tieren, eine illegitime Schädigung darstelle, weil dieser seiner Zukunft beraubt würde – Zukunft verstanden als das, was man vorhat, was man erwartet, auf das man bewusst planend und hoffend als Lebender Bezug nimmt.
Doch diese Konstruktion ist unnötig kompliziert und verstellt den Blick darauf, dass der Schaden des Todes ganz einfach zu benennen ist: als ein Verlust des Lebens. Gewiss, Leben bedeutet auch die Möglichkeit künftiger Erfahrungen – aber eben nicht nur guter, sondern auch schlechter Erfahrungen, die nicht gegeneinander aufgewogen werden müssen oder können, um zu sagen, wie viel eine Zukunft «wert» ist. Leben ist ein Wert an sich, ein essentielles Gut für das jeweilige empfindende Wesen.
Wie bei allen Gütern kann es auch hier Umstände geben, die es besser erscheinen lassen, dieses Gut aufzugeben oder einzutauschen: zum Beispiel, wenn nur noch die Aussicht auf ein extrem qualvolles Leben besteht. In solch einem Fall kann der Tod bisweilen besser sein als das Leben, und in diesen besonderen Fällen sind wir als moralisch Handelnde bisweilen verpflichtet, uns anvertrauten Tieren zu einem – dann tatsächlich angst- und schmerzfreien – Tod zu verhelfen.
In allen anderen Situationen aber gilt: Außer in Notwehr oder wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, ist das Töten anderer ein moralisches Unrecht. Es lassen sich kaum Argumente auf der Basis von Komfort, Traditionen, Eigeninteressendenken, die es erlauben würden, einem anderen Wesen das Leben zu nehmen. Denn auch wenn Tiere nicht über den Begriff des Todes verfügen, zeigen sie doch mit ihrem ganzen Leben, wie sehr sie an diesem Leben hängen: Viele Stunden am Tag gelten ihre Anstrengungen ihrem Überleben und dem ihrer Nachkommen. Ihre Todesangst beweist uns, wie dringend sie dem Tod entkommen wollen. Und sie als Subjekte eines eigenen Lebens, als Wesen mit eigenen Zwecken zu respektieren, heißt eben auch und zu allererst: ihr Recht auf Leben zu respektieren. An diesen Respekt müssen wir uns immer wieder erinnern – gerade weil wir mit der Frage von Leben und Tod in unserem Alltag so selten konfrontiert werden.
Der Sohn meiner Freunde, von denen ich eingangs berichtete, wurde durch die Szene am Fluss in Oregon angeregt, mit dem Angeln anzufangen. Meine Freunde begrüßten das, auf diese Weise lerne er Respekt vor dem Lebewesen, das sein Essen einmal gewesen sei. Damals reagierte ich leicht entsetzt, aber auf längere Sicht scheint die Strategie aufgegangen zu sein, denn heute ist er Beinah-Veganer. Jedenfalls bildet die Einsicht, dass der andere ein anderer mit einem eigenen Leben (gewesen) ist, nur den moralischen Auftakt. Wer ein klein wenig länger über die Perspektive des Fisches nachdenkt, der vormals Lebewesen war und jetzt Nahrung ist, wird zu dem Ergebnis kommen: Wenn der Fisch selbst in dieser Situation zu wählen hätte, würde er auf solch abstrakten «Respekt» pfeifen und sich für das Leben entscheiden.
Mit diesem vorzeitigen Abbruch des moralischen Nachdenkens über das Tier steht (stand) der jugendliche Angler nicht alleine da. Unsere Gesellschaft hat viele Wege gefunden – teils argumentativer Art, teils mittels Marketing –, uns von dem moralischen Missstand des industrialisierten Todes von jährlich fast einer Milliarde Tieren in Deutschland abzulenken. Dabei gibt es neuerdings einen gewissen Trend, den Tod der Tiere nicht unbedingt zu leugnen, sondern ihn zuverniedlichen, so dass er uns moralisch (zumindest auf den ersten Blick) nicht irritiert.
Das geschieht zum Beispiel in dem Werbe-Trickfilm über das Schwein Lilly, genannt «Transparenz-Tagebuch».[ 40 ] Diesem Film ist der denkbar absurdeste Text unterlegt, der Kindern Lillys Lebensweg und -ende erläutern soll: «Und dann, eines Tages, war es soweit: wie aus heiterem Himmel begann meine langersehnte Reise in ein neues Leben. Erster Stopp war der Schlachthof. Dort angelangt, bekamen wir einen kleinen Snack und wurden nochmals von einer sehr netten Ärztin untersucht. Danach wurde alles ein wenig undeutlich. Als ich wieder zu mir kam, hatte mein neues Leben als Schnitzel Lilly begonnen. Schnell fand ich neue Freunde, und im Supermarkt meines Vertrauens schließlich ein vorübergehendes Zuhause, bis mich dann
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